Heute wollte sie nicht zu ihrer Mutter ins Krankenhaus gehen, dachte Vera. Sie saß auf dem Sofa, noch im Pyjama. Aufstehen, Zähneputzen und dann unverzüglich Kaffee kochen, so startet sie normalerweise jeden Morgen, auch Sonntage waren da keine Ausnahme. Aber der schale Geschmack in ihrem Mund, erinnerte sie permanent daran, daß ihre Zähne keinerlei Pflege erhalten hatten, und daß sie noch keinen Kaffee genossen hatte. Aus der Küche kamen auch nicht die vertrauten kluckernden Geräusche der Kaffemaschine. Seit einer Weile, auf die Uhr hatte sie nicht geschaut, wollte sie sich aufraffen in die Küche zu gehen, aber stattdessen grübelte sie auf dem Sofa.
Wenn Vanessa nicht gewesen wäre, hätte sie sogar Markus Geburtstag vergessen. Vannessa war schon, bevor Markus aufgewacht war, in ihr Schlafzimmer gekommen, und fragte sie, wann denn Markus endlich aufwachen würde. In ihrer Hand hielt Vanessa ihr Geschenk für ihren Bruder. Sie hoffte, daß Vera ihr erlauben würde, ihn zu wecken. Ansonsten hatte sie sich, viel Mühe gegeben laut zu sein, um dem natürlichen Prozeß nachzuhelfen.
Die Kinder würden noch eine Weile mit Markus neuer Ritterburg spielen, aber dann würde sich vor allem Markus melden, und unwirsch fragen, wann es endlich etwas zu essen gäbe. Sie mußte sich nun unbedingt aufraffen, und ihm einen schönen Geburtstagstisch decken.
Nein, es war nicht nur eine Frage des Wollens. Sie konnte nicht zu ihrer Mutter fahren. Immer wieder sagte sie sich, daß sie kein schlechtes Gewissen zu haben brauche. Außer Mittwoch war sie jeden Tag bei ihrer Mutter gewesen. Zum einen waren die Kinder, die müßte sie mitnehmen, und sie wollte ihnen den Anblick ersparen, aber vor allen Dingen konnte sie selbst nicht. Sie konnte das Krankenhaus nicht mehr sehen, und ihre Augen brannten, tränten von ihrer Erkältung. In ihren Ohren war ein Dröhnen und Schallen. Vielleicht würde sie sich besser fühlen, wenn sie endlich ihren Kaffee getrunken hätte.
--,,Könnt' ihr nich ein wenig leiser sein. Mein Kopf dröhnt. Geht doch in eure Zimmer spielen!'', sagte Vera zu den Kindern, die nun im Wohnzimmer Verstecken spielten.
Vielleicht sollte sie nicht zu streng zu ihnen sein. Die Kinder wollten mal wieder ein wenig bei ihr sein, nachdem sie die ganze Woche so wenig Zeit mit ihnen verbracht hatte. Wenn wenigstens Felix da gewesen wäre, und jetzt ist er sogar das Wochenende nicht da. Sie spürte wieder die Wut, ihre Mutter war im Krankenhaus, und vor allen Dingen war es Markus Geburtstag. Diesmal hätte er sie nicht alleine lassen dürfen.
--,,Mama, warum kommt Papa nicht zum Geburtstag von Markus?''
Was hat sie eben gesagt? ... ,,Papa wär' doch auch gerne geblieben, aber er mußte eben wegfliegen?''
--,,Stimmt gar nicht, er hätte gar nicht fliegen brauchen ... ''
--,,Aber Vera, wie kommst du denn darauf?''
--,,Du ... du hast es selbst gesagt. Nur Papa sagte, daß er unbedingt fliegen müsse!''
Verdammt noch mal, die mußte noch wach gewesen sein, als sie nachts im Badezimmer bei offener Türe gestritten hatten. Felix Schuld war es gewesen, denn der hatte so laut gesprochen. Immer wenn er im Unrecht ist, wird er so laut. Mit seinem Gebrülle hat er sie bestimmt geweckt gehabt. Sie hatte immer wieder vergeblich versucht, ihn zum Flüstern zu bewegen. Wahrscheinlich hatte Vanessa dann auch mitbekommen, als sie Felix vorgeworfen hatte, daß er nur an sich denke und die Kinder seien ihm völlig egal.
--,,Alle Papas sind immer da, wenn die Kinder Geburtstag haben. Warum nicht mein Papa!''
--,,Aber Markus, Papa arbeitet doch auch für euch soviel, damit ihr es gut habt! ... ''
--,,Aber Markus hat mir gesagt, daß das schönste Geschenk für ihn wäre, wenn Papa da wäre, um mit uns zu feiern ... gel Markus?''
Oh Gott, der hat ja Tränen in den Augen, denkt Vera und nimmt Markus auf ihren Arm.
--,,Ich bin doch bei euch und heute mittag kommen alle deine Freunde. Peter, Björn und Sandra ... und Kevin kommt auch|''
--,,Kevin ist nicht mein Freund ... erzählst du uns die Geschichte von der Hexe Sarah?''
--,,Heute abend im Bett, jetzt ich muß doch noch einen feinen Kuchen für deine Gäste backen, ihr könnt ja noch ein wenig spielen oder mir helfen?''
Wenn nur sein Papa da wäre, das wäre das schönste Geschenk für ihn gewesen. Das konnte Felix nicht mehr gut machen. Diesmal sei Felix zu weit gegangen. Sie konnte und wollte es nicht mehr verstehen, daß er wirklich fahren mußte. Er denke wirklich nur an sich, dachte Vera. Felix war ein Egoist.
--,,Aber Markus hat doch noch am Sonntag Geburtstag!'', hatte sie angeführt, um ihn zum Bleiben zu bewegen.
--,,Ja, das ist sehr schade, daß ich da nicht da sein kann. Aber der vermißt mich bestimmt nicht bei all den Geschenken und wenn all seine Freunde kommen.''
Auch der Zustand ihrer Mutter zählte nichts bei Felix.
--,,Deiner Mutter geht es jetzt ja wieder besser!'', hatte er gesagt.
Ihre Mutter war nicht mehr in Lebensgefahr, und er sagte es gehe ihr wieder besser. Ihre Mutter babbelte wie eine Dreijährige, und für ihn war die Welt wieder in Ordnung. Schlimmer als eine Dreijährige. Eine Dreijährige im Fieberwahn. Wahnsinnig war ihre Mutter geworden, und die Ärzte sprachen beschönigend von Alzheimer, oder Demenz, oder Creutzfeld-Jacob oder so ähnlich. Die Ärzte redeten Latein mit ihr, aber niemand wollte ihr sagen, ob und wann ihre Mutter wieder gesund würde.
Francois, Francois, wenn wenigstens Francois noch da wäre. Noch nicht einmal eine Telefonnummer hatte sie von ihm. Sie hatte nie darüber nachgedacht, daß Fracois nach Ablauf seines Schuljahres wieder nach Frankreich zurückkehren würde, wieder zurück mußte, so stand es ja in seinem Vertrag.
Warum hatte er ihr keine Telefonnummer von sich gegeben, wo sie ihn erreichen könnte. Klar, er müßte erst wieder seinen Anschluß aktivieren lassen. Er würde sich wieder melden.
--,,Ich glaube, daß Du einfach mal Zeit brauchst über Dich, Dein Leben und mich nachzudenken. Du nimmst alles viel zu einfach.'', hatte Francois einmal zu ihr gesagt, und später hatter er noch hinzugefügt: --,,Für Dich ist alles nur ein einziges Spiel. Das ganze Leben ein Spiel und ich bin nur eine weitere Spielfigur!''
Chris, ja der, für den ist alles ein Spiel, hatte sie eingewandt. Der tingele immer nur rumm, wisse nicht richtig, was er wolle. Aber sie? Keinesfalls. Sie wisse worauf es ankomme: Hart arbeiten, Geld verdienen, Karriere machen.
Francois selbst war es doch, der alles so einfach nahm. Francois ließ doch alles laufen, machte sich keine Gedanken über die Zukunft. Was er ihr vorgeworfen hatte, traf doch auf ihn selbst vor allem zu.
Sie wußte noch nicht einmal genau, wie die Ortschaft hieß aus der Francois kam, und wohin er nun wieder zurückgegangen war. Sie hatte ihm viel anvertraut, über sich erzählt, ihre Sorgen ausgeschüttet, aber nie hatte sie ihn mal befragt. War das vielleicht der Grund weshalb er sagte, sie nähme alles wie ein Spiel. Blödsinn, das war ja was anderes. Ein wenig egoistisch war das von ihr gewesen. Aber wenn er wirklich etwas gehabt hätte, was ihm auf dem Herzen gelegen hätte, hätte er es ihr doch bestimmt gesagt.