Kaum sechs Wochen war es her gewesen, laut Kalender, aber nicht nach ihrem Zeitempfinden. Scheinbar endlose schlaflose Nächte hatten eine Ewigkeit in ihrer Vorstellung aufgetürmt, hinter der sich ihre erste Begegnung mit Felix verbarg, vage und irreal. Sicherlich müßte er kommen, um seine Bücher zurückzubringen, sagte ihre Vernunft, aber sie konnte es sich sich nur noch schwerlich vorstellen. Sie pfegte einen Traum und dachte nicht mehr ans Erwachen, oder besser, sie fürchtete sich davor. Ihre Aufregung und Unruhe war schon fast zur Gewohnheit geworden, genauso wie die ausgedehntere Morgentoilette.
Die Spannung würde wieder wachsen, wenn das Ende der Verlängerungsfrist näher käme, dachte sie morgens in der Bibliothek. Aber es waren ja noch fast vierzehn Tage. Die Schlange vor ihrer Ausgabesteller schien wieder endlos zu sein, und ständig zu wachsen. Auch wenn sie sich noch so anstrengte, sie verlängerte sich kontinuierlich. Heute würde er bestimmt nicht kommen, dachte sie, als die Schwingtüren sich wieder öffneten.
So fingen sie doch meistens an ihre Planspiele, abends vorm Einschlafen, in ihren Tagträumen und Träumen: durch die großen Schwingtüren tritt er in den Saal, der Stamm ihrer Zukunftsvarianten, und dann, während die Flügel noch schwingen, verzweigen sie.
Alle möglichen und auch unmöglichen Szenarien hatte sie doch wohl durchgespielt, da konnte es keine unerwarteten Alternativen geben. Immer war er allein in ihren Vorstellungen, das war schon die erste überraschung. Vor ihm war Chris, den sie damals ja auch noch nicht kannte, und hinter ihm, fast hätte sie ihn nicht bemerkt, kam Felix lachend, wie Chris. Sie mußten wohl gerade was Lustiges erlebt haben. Fehler in ihren Planspielen, nun gut, sie war ja auch kein General, und ihr Herz raste. Nun kam es darauf an, ihre Schlange oder Simones?
Simone! Enttäuscht, hilflos und machtlos fühlte sie sich, sie hätte heulen können, aber mußte weiterarbeiten.
--,,Aber unser Prof hat gesagt, daß wir das Buch in der Unibibliothek bekommen würden!'', protestierte die pickelgesichtige Brünette, der Vera gerade vier von den fünf von ihr gewünschten Büchern in die Hand gedrückt hatte. Sie sollte endlich ihre Bücher schnappen und Platz machen für den nächsten in der Reihe.
--,,Wie soll ich mich denn dann für meine Prüfung vorbereiten!''
Verzieh dich, hatte sie gedacht, aber hatte ihr gesagt, daß sie ihr da auch nicht weiterhelfen könnte. Die Sackgasse in ihren Denkmodellen: Felix in Simones Schlange. Da führte kein Weg zu ihr, oder es müßte schon ein Wunder geschehen.
Ihr Buch, das Buch, das ihr Professor vorgeschlagen hatte, war natürlich das wichtigste in der Welt, und sie konnte nicht verstehen, das gerade dieses Werk nicht in der Bibliothek vorhanden sein sollte. Und so was nenne sich Unibibliothek. Wie so vielen anderen hatte Vera auch sie, sicherlich nicht so freundlich, darauf hingewiesen, daß sie sich an anderer Stelle beschweren solle, daß sie mit der Anschaffung von Büchern nichts zu tun habe. Sie haßte diesen Typ von Studentin oder Student, ehrgeizig, strebsam, keinen Sinn mehr für das tägliche Leben. Ob sie die anderen Bücher wenigstens verlängern könnte, wenn es nötig wäre, fragte sie, und ihre Augen hüpften hinter ihren riesigen konkaven Brillengläsern hin und her. Eifrig, aggressiv? Die konnte ja nichts für ihre Kurzsichtigkeit, dachte Vera, aber warum trug sie so eine scheußliche Brille und ihre biedere Rüschelbluse. Okay, dachte Vera, sie selbst gehörte ja auch nicht zu den Modischsten, aber man mußte doch nicht so rumlaufen, wie die. Ihr Hintermann war genervt und verdrehte seine Augen zur Decke, um Vera zu signalisieren, daß es reiche, daß seine Geduld nun auch zu Ende sei.
Oh Gott, ein Wunder mußte geschehen, sonst würde Felix wieder verschwinden, ohne daß sie mit ihm sprechen könnte.