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Nicht immer






OMNES AEQUO ANIMO PARENT UBI DIGNI IMPERANT
SYRUS








Geschockt starrt Vera in den Spiegel. Sicherlich hing es damit zusammen, daß sie schon drei Nächte nicht mehr richtig geschlafen hatte. Sonntag auf Montag Nacht hatte sie zwar gut geschlafen, aber zu kurz. Walters Anruf hatte sie aus dem Tiefschlaf gerissen. Wenn sie an die beiden letzten Nächte dachte, hatte sie schon Angst vor der Nächsten. Diese schrecklichen Träume. Letzte Nacht immer wieder der Warteraum, endloses Warten. Betten statt Stühle für die Wartenden. Wenn nur die Türe aufginge, dann könnte sie endlich schlafen. Auf keinen Fall vorher, denn sie würden dann nicht mitbekommen, wenn mna sie aufriefe. Und der Hippie rauchte und rauchte, lachte. ,,Irgendwie müsse man sich ja die Zeit vertreiben.'', grinste sein Gesicht durch den Rauch. Wenn sie sich nur mal nach der anderen Seite drehen könnte, aber dann könne sie ja die Türe nicht mehr sehen. Die Knochen schmerzten. Wenn die Türe nur nicht so weit weg wäre. Sie konnte sie ja kaum erkennen durch den Nebel. Und dann war der Hippie plötzlich aufgestanden, und hatte einen Arztkittel über die Motorradjacke gestülpt. Jetzt müsse er leider gehen! Neuzugänge! Sie habe ja Zeit genug gehabt, sich bei ihm nach ihrer Mutter zu erkundigen. Am nächsten Tag wäre er wieder da.

Aber noch war ja Morgen und die Sonne schien. Vielleicht könnte sie ja mal durch den Park gehen, denkt sie. Würde ihr bestimmt gut tuen, mal was anderes zu sehen. Die Kinder waren aus dem Haus. Vanessa in der Schule und Markus im Kindergarten. So stark waren diese Falten nie gewesen, denkt sie vor dem Spiegel, in dem sich die tiefstehende Wintersonne spiegelt. Falten gab es keine in der Büste von der Nofretete. Was würde der -- oder überhaupt irgendein -- Künstler aus ihr machen, stellt sie sich wieder die Frage, die damals im Sommer nach der Rückkehr von Berlin Felix gestellt hatte. Plötzlich war sie gealtert. Oder hatte sie es nur nicht bemerkt. Wenn sie bloß mal ein paar Nächte wieder ordentlich schlafen könnte, würde alles wieder viel besser aussehen. Vor lauter Intensivstation und Krankheit und Tod war es außerdem auch kein Wunder, daß sie jetzt alles so kraß. Die Kinder beschäftigt es ja auch schon, sonst hätte Vanessa doch heute morgen nicht diese Frage gestellt. Dabei hatte sie sich doch die größte Mühe gegeben, so weit wie möglich alles von ihnen fernzuhalten.

--,,Muß Oma jetzt sterben?'', Vanessa hatte ihr Marmeladenbrot in der Hand gehalten, und war bereit wieder zuzubeissen, wenn sie eine Antwort erhielt. Sie hatte ihre Mutter, die sie nicht zu hören schien, fragend angeschaut, ihr rotverschmierter Mund weit offen. Die Kinder begannen sich abgeschoben zu fühlen, oder bildete sie sich das nur ein.

--,,Machs dir heute mal gemütlich'', hatte Felix wenige Minuten zuvor gesagt, als er das Haus verließ.

--,,Mami-i-ieh, muß Oma jetzt sterben?''

--,,Aber, Vanessa, wie kommst du denn darauf?''

--,,Stefan hat gesagt, wenn man ins Krankenhaus kommt, muß man sterben. Sein Opa ist auch dort gestorben!''

--,,Aber nein, mein Liebes, ... schau mal, ich war doch auch schon zweimal im Krankenhaus, als ihr geboren wurdet.''

--,,Bei mir aber nicht, Mama!'', rief Markus mit entsetztem Gesichtsausdruck.

--,,Doch, du warst auch mit Mami im Krankenhaus, gell Mami!''

Mit einem energischen Eß-dein-Brot-auf-du-mußt-gleich-zur-Schule hatte Vera der War-ich-nicht-warst-du-doch-Litanei der Kinder einen Riegel vorgeschoben, und damit die drohende Gefahr umstürzender Kakaotassen und fliegender Marmeladenbrote gebannt.

--,,Dehst du heute wieder zur Oma, Mami?'', fragte Markus, nachdem er eine Weile geschmollt hatte.

--,,Nein, Markus, heute nicht, heute will ich mal bei euch bleiben!''

Wollen war eigentlich eine Lüge, denkt sie vor dem Spiegel, und sie sieht nochmals den freudestrahlenden Gesichtsausdruck von Markus vor sich. Es entsprach nicht der vollen Wahrheit, daß sie nicht wollte, denn sie hatte sich doch am Vorabend lange bemüht wieder jemanden zur Beaufsichtigung der Kinder zu finden, aber ihre Suche war erfolglos geblieben. Gezwungenermaßen mußte sie also bei den Kindern bleiben. Und doch war es keine richtige Lüge, denn sie war erleichtert, nicht fahren zu müssen, und sie war auch froh, bei den Kindern bleiben zu können. Die brauchten sie, die begannen sie zu vermissen. Nochmals stundenlang neben dem Bett ihrer Mutter auf der Intensivstation zu sitzen hätte sie nicht ertragen, dachte sie. Auszuharren und sich permanent ihrer Ohnmacht bewußt zu sein. Ja, sie war erleichtert zu Hause bleiben zu können, und alles mit guten Gewissen, denn sie hatte ja gehen gewollt, und sie hatte alles versucht jemanden für die Kinder zu finden. Inge? Inge hatte sie bewußt nicht gefragt, die hätte sich wieder so schrecklich angestellt. Und Frau Herder? Das konnte sie doch von ihr nicht verlangen. Nein, sie hatte alles versucht! Alles wär ja auch viel einfacher gewesen, wenn Felix etwas eher hätte heimkommen können, dann hätte es ja mit der Frau Weber geklappt. Aber Felix, vielleicht wollte der auch bloß nicht eher heimkommen, möglicherweise, war diese Besprechung nur ein Vorwand. Sie brauche doch auch nicht jeden Tag ins Krankenhaus zu fahren, fauchte er sie an, als sie nur nochmals nachfragte, ob es denn nicht vielleicht doch für ihn möglich sei, wenigstens um sechs da zu sein.

Aber die Falten um ihren Mund, die waren doch nicht über Nacht gekommen, denkt sie. Wieso waren die ihr nie aufgefallen? Sie hatte nicht genug gelächelt, denkt sie plötzlich. Eine Fremde schaute sie aus dem Spiegel an. So wie die ausschaute, mußte sie relativ häufig schlecht gelaunt sein, mißmutig, neidisch, nein sie war zu hart mit sich. Plötzlich versteht sie, was Francois ihr hatte sagen wollen, damals im Sommer.

--,,Du solltest alles etwas lockerer nehmen, nicht so ernst. Freu dich doch an dem, was du hast. Die anderen Leute sollten dir doch egal sein.''

Plötzlich sieht sie sich so, wie Francois, sie wohl schon ziemlich früh gesehen hatte. Es war ja nicht falsch gewesen, was sie Francois zur Rechtfertigung gesagt hatte. Sie wollte niemals so eine unstete finanzielle Existenz führen wie bei ihr Zuhause. Sie hatte einen Mann wollen auf den sie sich verlassen könnte. Nicht einen Trinker, wie es ihr Vater gewesen war, und wie es auch Walter war. Die alle ihre Chancen versoffen hatten. Ihre Kinder sollten es einmal besser haben, hatte sie Francois weinend gesagt. Wenn die anderen Kinder von ihrem Urlaub prahlen, dann sollen sie immer ein noch schöneres Reiseziel haben.

--,,Rimini, Costa Brava und Mallorca, das waren die Zauberworte nach den großen Ferien und ich war immer nur im städtischen Freibad ... und allzu häufig auch noch allein! ... Ist es da so verwunderlich, wenn ich danach strebe, daß unser Einkommen stimmt?''

Er wollte sie nicht verletzen, deshalb hatte Francois so rumgedruckst. Während sie schimpfte, daß ihr Einkommen nicht genüge, hatte er ihr versucht klarzumachen, daß es doch viel mehr sei, als die meisten Familien hätten, selbst wenn beide arbeiteten.

--,,Kannst du dir vorstellen, was es heißt, wenn die anderen Kinder auf dich herabschauen, sich über dich lustig machen, weil dein Vater trinkt, weil er arbeitslos ist?''

Sein Vater sei auch arbeitslos gewesen, immer wieder, je nach Wirtschaftslage. Aber er habe nicht getrunken, zumindest nicht übermäßig.

--,,Es gibt doch auch einen Wege zwischen Penner und Karrierist ... ''

--,,Mein Vater war kein Penner!'', entrüstete sich Vera

--,,Nein, natürlich nicht ... dieses reine Karrierestreben macht doch auch nie glücklich. Das ist doch wie Sex ohne Orgasmus. Immer höhere Ziele und wo man auch hinkommt keine Befriedigung. Nur Frustration, denn wieder sind welche über einem.''

Wenn sie an ihre Mutter und an all die anderen armen Menschen in dem Krankenhaus dachte, erschien ihr ihr bisheriges Streben so sinnlos. Sie konnte nicht mehr stolz sein auf das, was sie erreicht hatten. Wenn alles so schnell in Frage gestellt sein konnte. Was hatten sie überhaupt erreicht?




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