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Abschnitt 70


Die Party hatten einen steifen Anfang hinter sich gelassen, und das kalte Büfett war gerade eröffnet worden. Chris ging nicht zielstrebig auf Mohler zu. Vielmehr ging er über mehrere Etappen, mit Zwischenstopps bei anderen Gästen. Ob er denn schon mal die vorzügliche Obsttorte probiert hätte, sagte Moni, währen sie Chris ihren Teller entgegenhielt. Sie war auf dem Weg zu Vera, die sich nun in der Küche, neben dem kalten Büffet positioniert hatte, wohl auch, um helfend und erklärend bei der Schlacht eingreifen zu können. Sie müsse ihr doch unbedingt mal ein Lob aussprechen für das tolle kalte Büfett, sagte Vera. Gleichzeitig wollte sie natürlich auch herausfinden, was Vera selbst gemacht habe. Chris, der nun alleine im Wintergarten zwischen den riesigen tropischen Pflanzen stand, begann ganz langsam seinen Weg zu Mohler, nicht auf dem kürzesten Weg, der Raumdiagonalen, sondern in Richtung des großen Sofas, einer der großen Attraktoren des Raumes. Er entfernte sich damit auch von Herrn Dr. Ingo Dexter, der sich erst vor wenigen Minuten erneut zu Frau Sinistra und ihrem Freund Frank Schlegel gesellt hatte. Ihr ,,Oh Gott nein, nicht schon wieder zu uns'' hatte man für ein paar Sekunden in Raffaelas Augen aufleuchten sehen. Chris machte einen Höflichkeitsstop bei Simone und ihrem Mann Robert, die auf dem großen ledernen Sofa Platz genommen hatten. Moni und Vera plauderten schon angeregt über das kalte Büfett am anderen Ende des Sofas stehend. Mit ihrem Ja-wirklich-ausgezeichnet-und-ich-bin-wirklich-verwöhnt machte Dominique die beiden zum Terzett. Dominique hatte ihren Mann mit nahezu den selben Worten alleine gelassen, wie Moni Chris. Mohler folgte ihr langsam blieb aber dann bei den Bergers, den neuen Nachbarn von Felix und Vera, hängen, die im Duett sangen: ,,Ja,ja, wir sind die Nachbarn ... '' und dann ,,aber von gegenüber, also keine so richtigen Nachbarn, aber irgendwie doch ... '', ,,... Leiter der Sparkassenfiliale ... '' und dann noch Frau Berger alleine ,,stellen sie sich doch vor: erst auf der Sparkasse hat mein Mann den Herrn Schmied kennengelernt ... da fiel ihm auf, daß sie in der gleichen Straße ... '' und zum Abschluß ,,... und wir sind ja so froh so liebe neue Nachbarn bekommen zu haben ... gute Nachbarn zu haben ist ja ganz wichtig ... man kann ihnen ja schlecht entfliehen!''

Oh nein, er habe kein BWL studiert! Das wäre nicht für ihn gewesen, aber es wäre richtig, daß sie sich vom Studium her kennen, antwortete Chris Mohler. Germanistik studiere er. Herr Mohler nickte und brummelte ein ,,mmmh'', und schaute verständnislos. Chris sah es nicht, aber wer Mohler kannte hätte gesehen, daß nun bissige Kommentare sein Bewußtsein bevölkerten. Die Worte zuckten schon über Lippen und Mundwinkel. Er lächelte, freundlich sollte es sein, aber der Zynismus war ungenügend verborgen. Aber er hielt sich noch zurück, denn er sagte nicht, daß er ein solches Studium für vergeudete Zeit hielt, und er verdrängte seine ,,brotlose Kunst'', die er schon so oft in ähnlichem Zusammenhang verteilt hatte, aber dann sagte er dennoch, nachdem Chris noch hinzugefügt hatte, diese juristischen und wirtschaftlichen Studiengänge wären ihm zu trocken gewesen.

--,,Das wäre nichts für mich gewesen. Da muß man doch so viele Romane lesen. Ich hasse Romane. Hab' ich schon in der Schule gehaßt. Da walzt einer auf mehrerer hundert Seiten etwas aus, was man wohl meist auf einer Seite sagen könnte. Find' ich einfach langweilig. ... das ist was für Mädchen aus gutem Hause, oder solche, die reich heiraten wollen ... so zur Konversation macht sich das ja ganz gut! So ein Studium hat doch nichts mit dem wirklichen Leben zu tun! Damit kann man doch nicht richtig Geld verdienen!''

Damit hatte er es doch gesagt, wenn auch in anderen Worten. Was hatte er eigentlich gegen Germanistik, gegen alle ,,schöngeistigen'' Fächer? Schon oft hatte er sich diese Frage gestellt. Die blöden Psychologen -- wenn er an sie dachte versah er sie immer mit diesem geringschätzigen Attribut -- würden ihm bestimmt unterstellen, daß er insgeheim gerne selbst ein Künstler wäre, und deshalb jedem anderen es mißgönne. Aber das war Quatsch, totaler Quatsch, dachte er, beinahe wütend auf seine imaginären Psychologen. BWL war sein Fach, auch wenn er es nicht studiert hatte. Er hatte überhaupt nicht studiert, und er hatte eine steilere Karriere, als viele studierten und promovierten. Voller Stolz denkt er immer wieder daran, daß über hundert Promovierte unter ihm arbeiten.

Was verstand der eigentlich unter wirklichem Leben, dachte Chris? Wer sein Leben nicht dem Mammon weiht, machte etwas falsch, war dumm, war es das? Chris sei nicht voreingenommen, dachte er, und außerdem hatte er selbst ja die Unterhaltung mit ihm gesucht. Vielleicht hatte er ihn nur falsch verstanden gehabt, im Zweifelsfall für den Angeklagten, und dies sollte auch für Mohler gelten. Warum auch nicht für ihn, und immerhin handelte es sich ja auch um Felixens obersten Chef.

--,,Ihre Frau? Hat die nicht auch Romanistik studiert?''

--,,Nein, nein. Dominique ist Französin, aber Romanistik muß man ja deswegen nicht gleich studieren. ... haha ... Sie sind übrigens heute schon der zweite der mich dies fragte. Dominique hat Musik studiert. Aber richtig ... nicht nur so zum Spaß ... Sie müßten sie mal Piano spielen hören ... '', schwärmt Mohler.

Schöne Musik, das ist es, was hier fehlt, dachte Chris. Felix hatte noch nie viel Geschmack gezeigt, und Vera scheint ihn noch zu übertreffen. Vorhin hatte er ihre Sammlung durchstöbert, wenige Dutzend. Ihre Geschmack war geprägt worden durch die Rammschwühltische in den Supermärkten und den durch Funk- und Fernsehen gepriesenen Sammelalben. Die großen Sommerhits, die Hits der Sechziger und so weiter. Ein zwei waren dabei gewesen, die ihm auch bedingt gefielen. Er mußte nachher mal eine auflegen. Was hatte Mohler eben gesagt? Ach ja, seine Frau spielt Klavier. Hatte ihm Felix ja auch schon mal erzählt, er hätte sich seine blöde Frage sparen können.

Enttäuscht denkt Mohler daran, daß es in Veras und Felixens Haus kein Klavier gibt, sonst hätte Dominique, was vorspielen können. Falls sie überhaupt wollte. Ihr Klavierspiel hatte Mohlers Leben um eine Dimension erweitert. Die Kunst. Ein Kunstbanause, ja, das war es, wofür ihn seine Freunde und Geschäftspartner gehalten hatten, und es deckte sich auch mit seiner Selbsteinschätzung. Aber es gefiel ihm nicht immer, wenn er dafür gehalten wurde. Reich war er, darauf war er stolz, aber er wollte nicht einen reichen Ignoranten gehalten werden, einen Neureichen, der nur Geld und Wirtschaften kennt. So stimmte es nicht, es haßte es, aber so wollten sie ihn sehen. Sie waren nur neidisch und brauchten etwas, um auf ihn herabsehen zu können. Wenn Dominique vorspielte, und sie tat es auf seinen Wunsch hin bereitwillig fast bei jeder Einladung, sonnte er sich in ihrem Schatten. Er genoß es, wenn die Bewunderung für Dominique, die Pianistin, die talentierte Musikerin, langsam auch auf ihn überschwappte. Dominique war seine Frau, und seine Frau verstand mehr von Musik als alle anderen, und sein Haus, ihr Haus war nun ein musikalisches Haus, nicht das Haus eines kulturlosen Neureichen.

--,,Aber sie ist nicht mehr aktiv, ich meine professionell tätig?''

--,,Nein ... war sie nie ... '', hier unterbrach er seinen Redefluß und lenkte das Gespräch wieder in eine andere Richtung. ,,Was mach' man eigentlich, wenn man ihr Studium abgeschlossen hat.''

--,,Die Berufsaussichten sind zwar nicht so rosig, aber mit einem guten Abschluß sieht es besser aus, als die meisten glauben ... ''

--,,Nein. Ich meinte, welche Berufe gibt es, die man ergreifen kann? Also außer Lektor und Lehrer!''

--,,Da denken alle zuerst einmal dran. Aber es gibt noch eine Menge anderer Möglichkeiten. Mein Traum ist es Schauspieler zu werden! ... oder Regisseur ... ''

--,,Bertie, hast du eigentlich schon mal von dem tollen Mousse-au-chocalat probiert. Ist wirklich köstlich!'', sagte Dominique, die plötzlich unbemerkt von beiden neben ihnen aufgetaucht war, und hielt ihrem Mann einen Löffel vor den Mund.

--,,Hmm ja, wirklich toll. ... Aber ich darf damit gar nicht erst anfangen ... sonst geht es mir wieder ... ''

--,,Ja, ja. ... ich werde mir aber noch einen Nachschlag holen. Dann könnt ihr auch wieder ungestört weiterdiskutieren!''

Verdammt noch mal, warum hatte er wieder `oder Regisseur' gesagt. Mangelndes Selbstvertrauen war das doch. Als ob es leichter wäre Regisseur zu werden, wie Schauspieler. Ein Mann wie Mohler würde nicht zögern. Der würde einfach sage ich werde Schauspieler und ich werde berühmt. Und so einer wird immer berühmt, wird immer reich, der braucht kein Talent. Solchen Leuten traut niemand zu widersprechen, selbst die Kritiker nicht. Aber er kannte doch Mohler noch gar nicht richtig, er preßte ihn einfach in eine Schablone, die er aus Vorurteilen und Erfahrungen mit anderen ähnlichen Geldleuten gemacht hatte.

--,,Dafür brauchten sie aber keine Germanstik zu studieren, nicht wahr?''

--,,Stimmt, aber es ist hilfreich. Auf jeden Fall ist es besser als BWL, Jura oder sowas. Und als ich mit Germanistik begann, war mir noch nicht klar, ob ich wirklich Schauspieler werden wollte ... aber dieses Studium würde mir die Option erhalten ... verstehen sie?''

Tu's endlich mal, Chris, red' nicht immer nur davon. Die Hamletaufführung an der Uni ist aber doch schon mal ein Anfang. Ohne zu zögern hatte er sich doch auf Hamlet gestürzt und jetzt durfte ihn bloß nicht der Mut verlassen.

--,,Nein, ich meine, was ich nicht verstehe ist, wie kommt man überhaupt dazu sowas werden zu wollen. ... wenn man doch nicht zu den großen Stars gehört ist das doch eine ... '', er zögerte einen kurzen Moment, ,, brotlose Kunst ... da kann man doch im Normalfall nicht reich werden ... ''

--,,Wenn's mir ums Geld ginge, dann wäre ich am besten bei der Sparkasse geblieben ... ''

--,,Oh, sie haben mal bei einer Bank gearbeitet?'', Herr Mohler schien äußerst interessiert.

--,,Nach dem Abitur habe ich eine Banklehre gemacht, ... aber mir ist da klar geworden, das ich sowas nicht ein Leben lang machen wollte. Auch nicht wenn ich Bankdirektor werden würde.''

Irgendwie war damals alles so schnell gegangen, dachte er, während Mohler der plötzlich gelangweilt wirkte, sich im Raum herumschaute, so als suche er nach anderen Gesprächspartnern. Plötzlich hatte Chris das Abitur in der Tasche gehabt, und wußte nicht recht, was er tun sollte. Studieren ja, aber was, und da haben ihn seine Eltern, -- vor allem sein Vater, der ja selbst seit seinem sechzehnten Lebensjahr Bankangestellter war -- und sein Klassenlehrer überredet eine Banklehre zu absolvieren, später könne er ja dann immer noch studieren, seine Noten seien doch nicht so, daß er unbedingt studieren müsse. Nach Hause eingeladen hatten sie seinen Lehrer, damit er ihnen helfen könnte, ihre Sohn auf den richtigen Pfad zu bringen. Immer wieder saßen sie seit dem in seinen Träumen im Wohnzimmer auf den immer größer und bunter werdenden Sofa und den nahezu unbeweglichen Sesseln zusammen, und redeten auf ihn ein. Und er fühlte sich so hilflos, konnte ihnen nichts entgegensetzen. Und wenn er was sagte -- und er hatte kaum was gesagt, denn seine Kehle war wie gelähmt -- wirkte es so kindisch und so naiv. Seine Wünsche und Träume, zu zart, um überhaupt Worte zu haben, schmolzen in der Hitze des ,,gesunden Menschenverstandes''. Und wenn er zaghaft stotterte, ob er denn nicht vielleicht doch etwas anderes machen könne, entwaffnete ihn sein Vater mit ,,Aber natürlich, aber dafür mußt du dir selbst klar sein, was du willst!'' Und dann hatte er ja eine zweijährige Schauspielerausbildung absolviert, wie seine Eltern es wollten, und sie nannten es Banklehre. Immer die gleiche Rolle und mehr oder weniger das gleiche Kostüm. Die Krawatten wechselten und strangulierten ihn täglich, und er haßte den blauen Blazer und die graue Hose. Und nicht nur Frau Peters, die Frau von Dr. Peters, fand ihn so süß, den ,,kleinen Direktor'' nannte sie ihn nur. Sie mochten ihn so, weil er noch lebte in seiner Kombination, und dennoch schon so aussah, wie ein richtiger Banker. Und die Männer mochten ihn, weil er so schön spurte. Ein junger Mann, der ihre Spielregeln annahm, nicht so wie all die anderen vergammelten Jugendlichen, draußen in der Fußgängerzone, oder die sich um den großen Brunnen lümmeln, rauchend und trinkend. ,,Aus Ihnen wird noch was!'', sagte Frau Peters immer wieder. Nein, laß mich nicht werden, was sie mir wünscht, dachte er dann immer, und spürte, wie ihm die Schamesröte ins Gesicht stieg, und er erwiderte ihr freundliches Lächeln. Abteilungsleiter, Filialleiter, oder gar Bankdirektor, nein, er wollte es nicht werden. Natürlich, das waren die bestbezahltesten und interessantesten Rollen, die die Bank zu bieten hatte. Auf Wunsch der Kunden spielen sie ,,den Freund und Helfer der Familie'', auf den immer Verlaß ist, der immer für sie da ist, der sie finanziell behütet. Oder auch der ,,reiche Onkel von der Bank'', der nicht nur kleine Puzzle und Puppen für die Kinder zu verschenken hat, sondern auch tolle Kredite und Sparanlagen, und alles aus reiner Menschenfreude. Aber auch der sachliche, kompetenter Geschäftspartner gehört zu ihrem Repertoire. Ja, und dann gibt es ja auch die Kunden, die den devoten Diener suchen, der ihnen zu Befehl ist, der sie bewundert. Aber den Claqueur spielen sie natürlich nur für besonders betuchte Kunden. Für die Armen gibt es nur die freundliche Arroganz. Oh, Mohler war weg, dachte Chris plötzlich. Er war zu Braggard gegangen, der plötzlich um Ruhe bat, um ein paar Worte zu sagen.

Er freue sich über diese Einladung, sagte Braggard. Sie stehe gewissermaßen am Ende eines langen und beschwerlichen Weges, der vor allem auch erfolggekrönt war. Am Anfang habe niemand gewußt, wohin sie TQM führen würde, denn für sie alle sei es Neuland gewesen. Nur dadurch, daß sich alle Beteiligten ohne wenn und aber eingebracht hätten, wäre es möglich gewesen, dort zu stehen, wo sie jetzt stehen. Vor allem für die Partner, sei es eine schwere Zeit gewesen, denn Freizeit wäre ja ein seltenes Gut gewesen. Und dann vergaß Braggard nicht warnend in die Zukunft zu blicken, denn er sagte, daß auch in der Durchführungsphase von TQM wieder viel von den Beteiligten verlangt werden würde. Dann lobte er die Arbeit von Felix, aber stellte alles so dar, als ob er lediglich unter seiner Regie agiert habe. Er verglich ihr Team mit einer Fußballmannschaft, und betonte, daß halt alles von einem guten Trainer abhing. Mohler schob er in die Rolle des Präsidenten seines imaginären Fußballclubs. Der Präsident muß dafür sorgen, daß die Gelder fließen. Braggard lachte irritiert, als Mohler einwarf, daß der Präsident auch den Trainer bestimme und gegebenenfalls entlasse. Und vor allem bestimme der Präsident auch, was gespielt werde. Dann begann Braggard die Prinzipien von TQM zu erklären. Nun gab es kein wir mehr für ihn, er redete nur noch in der Ichform. ,,Ich habe'', ,,Ich dachte'', und ,,Ich machte''. Er bedauerte daß er keine Folien, und sowieso keinen Projektor habe, aber er sagte, daß dies ja vielleicht auch besser so sei, denn er wollte ja niemanden langweilen. Und dann tat er es doch. Er ratterte seinen gewohnten Vortrag ohne Folien herunter. Und er war ohne bunte Folien noch langweiliger als normal, aber Braggard sprudelte vor Begeisterung, bis ihn Mohler unterbrach, mit der Bemerkung die Gastgeberin warte in der Küche mit Kaffee auf die Gäste.

Wie plötzlich an einem Sommertag, einen mit strahlendblauem Himmel, dunkle, schwarze Wolken auftauchen können, so verfinsterte sich plötzlich Raffaellas Mine. Scheinbar aus dem Nichts, aber die Brutstätte ihrer Wolken war klar: Braggards Laudatio. Felix Leistung während der TQM-Konzeptphase hatte er loben wollen. So hatte er auch seinen Vortrag begonnen.

--,,Das war doch ein Loblied auf sich selbst, und Herrn Mohler immer schön Brei um den Bart schmieren!'', raunte Raffaella, denn obwohl sie weit genug entfernt war, von denen für deren Ohren dies nicht bestimmt war, wollte sie sicher gehen. ,,Was ist mit all den anderen, die die wesentlichen Beiträge geliefert haben, die selbst an den Wochenenden für TQM gearbeitet haben ... Felix und Braggard hat man da selten gesehen. ''

--,,Verdammt geschickt hat er das gemacht!'', unterbrach sie Frank, ,,er hat ja gar nicht behauptet, die ganze Arbeit gemacht zu haben, aber er hat `den Weg vorgezeichnet' ... von ihm kommen die wesentlichen Ideen!''

--,,Es scheint schon zu stimmen, was man von ihm sagt, ... durch Blenden und mit den Früchten der Arbeit von anderen, hat der es nach oben gebracht. Des Kaisers neue Kleider, und Mohler der Kaiser zieht sich alles an und ist stolz darauf. Wenn er ja wenigstens der einzige wäre, aber da werden die größten Deppen zu Führungskräften gemacht ... und die können weder führen noch sind sie kräftig!'', ließ Raffaella wieder ihrem ärger freien Lauf.

--,,Wissen Sie, Frau Sinistra, manchmal erkennt man den Sinn in einer Sache ja wirklich nicht. Stellen sie sich zum Beispiel vor, die beiden Schneider wären Wesen aus der 4. Dimension gewesen, dann könnten sie die tollsten Kleider nähen und wir würden nichts sehen.''

Raffaella schaute Dr. Dexter an, als habe sie nun wirklich ein Wesen aus einer anderen Dimension gesehen, und dieses Wesen war nun nicht mehr zu bremsen. Endlich hatte es einen Einstieg in den Hyperraum gefunden, der ihm schon seit seinem Studium bestens vertraut war.

--,,Was ich meine ... es ist nicht immer einsichtig, worin die Fähigkeit eines Chefs liegt. Aus einer höheren Dimension betrachtet erscheint alles sinnvoll. Als Junge hatte ich mal ein tolles Buch gelesen, dort ging es um zweidimensionale Wesen. Diese Wesen kennen keine Höhe ... und wißt ihr, was mich am meisten fasziniert hatte: ein Gefängnis ist ein Kreis für ein solches Wesen. Es kann nicht entfliehen, aber wenn nun einer wie wir kommt, der kann es in den 3-dimensionalen Raum hochheben, kann es dort sogar noch drehen, sodaß anschließend sein Herz und die anderen Organe seitenverkehrt sind, und anschließend läßt man es außerhalb des Gefängnisses nieder. Das ist doch ein Wunder für dieses Wesen, und für alle anderen dieser platten Wesen ebenso! ... oder stellen sie sich deren zweidimensionale Welt als ein Blatt Papier vor ... solange dieses Blatt glatt ist ist die Welt dieser 2-dimensionalen Wesen in Ordnung, aber stellen sie sich nun vor sie zerknittern dieses Blatt ... nun treten plötzlich verblüffende Effekte auf, immer dann, wenn so ein Wesen über Kanten und durch Talsohlen gleitet ... plötzlich bewegen sie sich scheinbar unerklärlich schneller oder langsamer ... diese Wesen können ja nicht wahrnehmen, daß sie sich auf einer zerknitterten Oberfläche befinden ... sie glauben ja, daß alles flach und eben sei ... sie haben halt keine Vorstellung von Höhe und Tiefe ... gar keine Wörter dafür ... und ihre Physiker entwickeln äußerst komplizierte Formeln, um diese für uns so trivialen Effekte zu beschreiben ... ''

--,,Was hat das eigentlich mit Braggard zu tun!'', unterbrach ihn Raffaella. Sie hatte das Gefühl, daß er, ohne ihr Eingreifen, wohl noch beliebig lange weiter doziert hätte. Sie wußte ja auch schon, was noch kommen würde, bald wäre er auf Riemann und dessen Leistungen zu sprechen gekommen, und irgendwann wäre er dann beim Urknall gelandet, falls die Party nicht schon vorher zu Ende gegangen wäre.

--,,Wie ich schon sagte, aus einer höheren Dimension sieht alles ganz anders aus, dort kann man Zusammenhänge besser ... ''

--,,Und sie können die Dinge aus einer höheren Dimension betrachten!''

--,,Natürlich nicht'', fuhr Dr. Dexter fort, ohne es ihr übel zu nehmen, oder wahrscheinlich hatte er den Spott in ihrer Stimme gar nicht wahrgenommen, ,,aber ich versuche immer wieder die Dinge aus verschiedenen Sichtwinkeln zu betrachten. Dadurch erhält man gewissermaßen die Projektionen aus dem 4-dimensionalen in unseren 3-dimensionalen Raum. ... Stellen sie sich zum Beispiel vor, man braucht gar keine Chefs, ich meine direkt, als Chefs. Ihre Funktion liegt vielmehr darin eine Belohnung und einen Anreiz zu haben, für die ... wie soll ich sagen ... Unteren. Sie streben danach, selbst Chef zu werden strengen sich an, leisten Tolles, was ihr Chef natürlich dann für sich nutzt, aber einige von ihnen werden dann wirklich auch zum Dank zum Chef gemacht, denn nur so funktioniert dieses System, und dann brauchen sie nichts mehr zu machen ... andere strengen sich nun an, um eines Tages diese Stelle innezuhaben ... ''

--,,Das würde auch erklären, weshalb es immer mehr Chefs gibt und immer weniger, die produktiv arbeiten.'', sagte Raffaella, nicht ganz ernst, denn sie wollte Dexter nicht ernst nehmen. Teilweise hatte er ja recht, dachte sie. Sie kannte ja auch genügend Chefs auf Gnadenposten, aber es führte doch zu nichts, hinter allem einen tieferen Sinn sehen zu wollen, auch wenn man ihn nicht erkennen kann.

--,,Das ist ja wie bei Plato im Höhlengleichnis! ... Ich meine ihre Projektionen aus dem 4-dimensionalen Raum ... die in der Höhle sehen ja auch nur Schatten ... '', sprudelte es aus Frank, der sich freute, endlich mit seinem philosophischen Wissen mitreden zu können.

--,,Also ich lasse euch mal eine Weile alleine diskutieren. Ich schaue mich mal nach einem Kaffee und etwas Süßem in der Küche um!'', sagte Raffaella, ohne auf Dexters Antwort zu warten. Frank hatte ja noch nicht so oft das Vergnügen gehabt mit Dexter zu philosophieren, dachte Raffaella, ihm würde es ja eine Weile Spaß machen. Für Dexter brauchte man wohl einen 10-dimensionalen Zusammenhang, um erkennen zu können, wo sein Sinn für die Firma liegt, dachte sie bitter, denn von ihm stammte kaum ein verwertbarer Beitrag für TQM. Naja, mit vielen, teils dämlichen, Fragen hatte er es immer wieder geschafft, die ohnehin langen Besprechungen ins Endlose zu ziehen.



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