Auf den Flur mußte sie mal gehen, einfach nur mal auf den Flur. Dort würde sie dann vielleicht auch einen Arzt finden, den sie mal nach dem Zustand ihrer Mutter befragen könnte. Aber es bedurfte nicht der Hilfe eines Tiefenpsychologen, um zu erkennen, weshalb sie wirklich aus dem Zimmer wollte. Sie mußte weg vom Bett ihrer Mutter. Sie konnte diesen Anblick nicht mehr ertragen, sie brauchte eine Pause. Schon zwei Stunden hatte sie den Wahnvorstellungen ihrer Mutter gelauscht, oder besser der Frau, die so aussah wie ihre Mutter, aber sonst nichts mehr mit ihr gemein hatte. Sah sie wirklich noch so aus, wie ihre Mutter? Die Augen, Vera fürchtete sich vor diesen Augen. Die Augen, die sonst immer voller Liebe und Verständnis waren, blickten plötzlich voller Aggressivatät. Das waren nicht mehr ihre Augen, dachte sie immer wieder, wenn sie auf sie blickte, was sie mehr und mehr zu vermeiden suchte. Als schaute jemand anderes aus ihren Augen, diabolisch. Allmählich konnte sie verstehen, weshalb es so etwas wie Teufelsaustreibungen mal gegeben hatte. Und gleichzeitig diese Angst in ihren Augen, dann wenn Satan wohl wegschaute, diese unausprechliche Angst. Der Flur war die Erlösung. Nur auf den Flur, dort wartete wieder die Normaliatät auf sie.
Nur wenige Male war sie auf dem Flur auf und ab gelaufen, als sie von dieser Person gewissermaßen überfallen worden war. Diese Frau mußte sie von ihrem Zimmer, zwei weiter als dasjenige ihrer Mutter, aus erspäht haben, und sie als Opfer auserkoren haben.
Sie hatte sie gefragt, ob auch ein naher Angehöhriger von ihr auf dieser Station liege. Was wäre gewesen, wenn sie verneint hätte, wenn sie gesagt hätte, ihrer Mutter fehle nicht viel? Wahrscheinlich wäre sie als ungeeignet, als unwürdig eingestuft worden, ihre Geschichte zu hören, denn nur von Leuten, die ein ähnliches Schicksal wie sie teilten, konnte sie Verständnis und Sympathie erwarten.
,,Sie hätten ihn mal kennenlernen müssen ... ich meine ... früher vor seiner Krankheit ... er war immer so nett, so zuvorkommend ... und jetzt ... das tut mir am meisten weh ... jetzt tun alle so, als wäre das nie wahr gewesen ... als hätten sie es schon immer kommen gesehen ... glauben sie mir, der hätte nie das geschafft, was er erreicht hat, wenn der schon vorher ... er ist ganz in seiner Arbeit aufgegangen ... der hat sich immer richtig gefreut, wenn das Wochenende vorbei war, und er wieder in Firma gehen konnte ... also nicht das sie jetzt denken, es hätte ihm zu Hause nicht gefallen ... nein, nein ... aber die Firma war sein ein und alles ... da war ich schon ein wenig eifersüchtig ... ''
Sie war nicht zu stoppen. Aus ihr sprudelte die bilderbuchartige Erfolgsstory eines mittleren Managers. Unerbittlich häufte sie all ihre materiellen Errungenschaften vor Vera auf, schnelle und teure Autos, auf die ihr Mann immer so stolz gewesen sei, die Villa in der besten Wohngegend der Stadt und malte die schönsten und exotischsten Urlaubsträume, die sie alle mit ihrem Mann schon einmal realisiert hatten, und nun nur noch in ihrer Erinnerung und auf Bildern und Videos existierten.
,, ... irgendwann fing er plötzlich an zu schimpfen, ... er wirkte immer häufiger gehetzt und verkrampft ... ich dachte, daß ihn die Arbeit besonders streßte ... wissen sie, in seiner Position, da kann es schon mal ganz schön heiß hergehen ... und die Axt, die hatte er schon lange vorher in unser Auto gelegt ... da war er noch ganz normal gewesen ... wissen sie, er hatte doch immer so schreckliche Angst gehabt, und er war doch oft auch nachts und alleine im Auto unterwegs ... das ist doch ganz normal, wenn man da etwas dabei hat, um sich zu verteidigen ... heutzutage ist man doch seines Lebens nicht mehr sicher ... ich kenne viele, die haben ein Messer dabei ''
Eigentlich könnte die auch eine Patientin sein, und nicht eine Besucherin, dachte Vera, während sie, nun auch gespannt, ihren Ausführungen lauschte.
,, ... jedenfalls die Axt hat er schon lange vorher mit sich rumgeführt ... und da besteht auch überhaupt kein Zusammenhang ... es stand zur Diskussion ihn in die Geschäftsleitung mit aufzunehmen ... und dann nachher, da war ihnen schon immer alles klar gewesen ... wissen sie, in Wirklichkeit brauchten die einen Sündenbock, und da kam ihnen Peter gerade recht ... der konnte sich ja jetzt nicht mehr wehren ... und sie konnten sich reinwaschen, von ihren eigenen Fehlern und Versäumnissen ablenken und glauben sie mir ... hier sehen sie keinen von denen ... niemand kommt ihn mal besuchen ... sie haben ihn abgeschrieben ... für sie ist er ein Verbrecher ... es ist als ob sie sich schämen, jemals mit ihm zu tun gehabt zu haben ... ''
War der Mann dieser Frau zum Mörder geworden, fragte sich Vera, aber irgendwie wagte sie sich nicht sie zu fragen. Außerdem würde sie es bestimmt auch bald erzählen, sie mußte also nur Geduld haben.
,, ... aber einer seiner Arbeitskollegen ... einer der wenigen, die auch jetzt noch zu ihm halten ... sagte mir, als ich ihn mal hier getroffen habe, daß nicht alles Raserei gewesen wäre `Glaub' mir!' hatte er gesagt, `dein Mann hat ihnen Dinge an den Kopf geworfen, die sie nicht hören wollten! ' die hätten ihn doch auf dem Gewissen, die hätten ihn doch in den Wahnsinn getrieben. Um den Maschke wäre es nicht schade gewesen, hatte er gesagt. ... Oh Gott nein ... kaum vorstellbar, wenn er wirklich ... der hat das ganze Büro zerstört ... zigtausend Mark Schaden und dann ist er auf den Maschke losgegangen, wenn nicht einer dazwischengekommen wäre ... kaum auszudenken ... und die Ärzte? ... die sagen, daß sie nichts organisches finden können ... für Professor Dehmer ist mein Mann bloß kein interessantes Forschungsobjekt ... der hat nichts wie seine Forschung im Kopf ... das merken sie auch daran, in welchem Zustand diese Abteilung ist ... die Schwestern sind faul und träge und er merkt es noch nicht einmal ... ''
Wäre ihre Mutter nicht im Krankenhaus, wäre ihre Mutter nicht auch geistig völlig verwirrt und würden sie nicht schon die ganze Zeit Ängste plagen, daß diese Krankheit auch sie vielleicht befallen könnte, erblich oder so, dann hätte sie diese Geschichte kaum betroffen. Schlimmes Schicksal, hat aber nichts mit mir zu tun, kann uns nicht passieren hätte sie dann gedacht. Aber so war ihre Angst gewachsen, nun war Felix auch irgendwie involviert.