Keine Frage. Jetzt mußten Sie ihn ja wohl nach Hause lassen. Es mußte ihnen klargeworden sein, daß er nichts zu verbergen hatte. Alle Anschuldigungen gegen ihn waren haltlos, daß mußten sie eingesehen haben. Hatte es aber überhaupt irgendwelche Anschuldigungen gegen ihn gewesen. Die ganze Zeit über hatte er sich immer gefragt, wessen sie ihn überhaupt beschuldigen könnten. Warum sie ihn überhaupt hierher geschleppt hätten, hatte Wiedenkamp des öfteren gefragt, und Hermann -- Wiedenkamp hatte sich im Laufe des stundenlangen Verhöres zu dieser Schreibweise statt `Herr Mann' durchgerungen, machte ihn wenigstens etwas menschlicher -- schwieg ignorierte seine Frage oder bombardierte ihn mit Fragen. Immer wieder die gleichen, aber immer in neuem Gewand, in neuer Reihenfolge, wohl um zu testen, ob er sich in Widersprüche verstrickte. Aber auch wenn er versuchte die Fragen zu analysieren, konnte Wiedenkamp den Grund nicht erschließen. Es ging um Staatssicherheit, Zugehörigkeit zu staatsfeindlichen Organisationen, soviel verstand er. Aber sie hatten ihm nichts vorwerfen können. War doch von Anfang an klar gewesen, denn er hatte sich ja auch nichts zu Schulde kommen lassen. Aber ob sie ihn im Verdacht gehabt hatten, selbst Mitglied zu sein, oder von ihm sich nur Informationen erhofft hatten, blieb ihm verborgen. Aber Wiedenkamp ging davon aus, -- vor allem der relativ freundliche Ton gegen Ende des stundenlangen Verhöres erhärtete dieses Gefühl -- daß gegen ihn nie etwas Profundes vorgelegt hatte, man ihn also wohl nur hatte ausquetschen wollen, in der Hoffnung gegen jemand anderes etwas in der Hand zu haben. Jens Berendt zum Beispiel, dessen Name war ja ständig gefallen.
Kein Wunder, daß Herman so ein humorloser Geselle war, den ganzen Tag in so einem häßlichen alten Gebäude verbringen zu müssen, würde ihm auch stinken. So alt war dieses Gebäude eigentlich gar nicht, aber es wirkte verloddert, dachte Wiedenkamp, während er hinter Hermann durch die endlosen öden Flure trottete. Hinter Wiedenkamp ging wieder der stumme namenlose Begleiter vom frühen Nachmittag. Seine beiden Begleiter plauderten über den bevorstehenden Feierabend, Fußball, Skat, und Wiedenkamp atmete auf.
Was sprach also dagegen, ihn nun nach Hause zu lassen. Was heißt hier nach Hause lassen, dachte er. Sie mußten ihn zu seiner Firma bringen, denn dort stand sein Fahrrad. Wie sollte er sonst dorthin gelangen. Laufen schied jedenfalls aus, denn er erinnerte sich noch an die schier endlos erscheinende Hinfahrt. Sie hatten ihm nicht gesagt wohin sie führen, und er war viel zu aufgeregt gewesen, daß er noch nicht einmal darauf geachtet hatte, welchen Weg sie nahmen. Jedenfalls kannte er dieses Gegend überhaupt nicht, ein heruntergekommenes und verloddertes Industriegebiet, und sein Gefühl sagte ihm, daß zu dieser Zeit wohl kaum mehr Busse verkehren würden. Die wenigen Betriebe in der Nachbarschaft hatten wohl schon längst Feierabend, und einige hatten eh so ausgesehen, als wären sie schon vor langer Zeit aufgegeben aktive Mitglieder der Volkswirtschaft zu sein.
Die wenigen Straßenlaternen stülpten über den Parkplatz ihre gelblichen Lichtkegel, ansonsten waren sie umgeben von tiefer Dunkelheit. Sein Gefängnis der letzten Stunden lag inmitten eines abgelegenen Industriegebietes und um diese Zeit, halb Acht, hatten dort alle Feierabend. Gespenstisch und irrationaler Weise war er froh gewesen nicht allein zu sein, sondern in Begleitung der Beiden.
--,,Das war's dann!'', hatte Hermann gesagt, bevor sie sein Büro verlassen hatten. Hatte er nicht auch gesagt für heute, versuchte sich Wiedenkamp in Erinnerung zu rufen während das Knirrschen ihrer Schritte scheinbar an der Dunkelheit wiederhallte. Hermann hatte sogar freundlich gelächelt, und damit war wohl auch der Spuk vorbei. Egal, ob Unrechtsstaat oder nicht, dachte Wiedenkamp, was sollten sie denn für ein Interesse haben, ihn zu verhaften, er war doch kein Regimekritiker, er machte doch seine Arbeit, und vor allem sein Wissen kam doch seiner Firma und damit auch dem Staat sehr zu Gute. Seine Firma hatte es doch geschafft auf dem internationalen Markt konkurrenzfähig zu sein, und dazu hatten doch in nicht unbeträchtlichen Anteil auch seine Erfindungen beigetragen. Die würden sich hüten ihn ins Gefängnis zu stecken, selbst wenn er regimekritisch tätig gewesen wäre, zumindest wenn es sich in einem bestimmten Rahmen bewegt hätte. Ansonsten wären die ja total bekloppt, dachte er, als er in das nach Zigaretten stinkende Innere des Wagens stieg.
--,,Nach Ihnen!'', hatte der bis dahin stumme Begleiter mit einem breiten Grinsen gesagt, und neben ihm auf der braunen kunstledernen Rückbank hatte Herman Platz genommen. Der Schweigsame hatte das Steuer übernommen.
--,,Könnten Sie mich bitte vor meiner Firma absetzen!'', fragte Wiedenkamp, nachdem sich der Wagen stotternd in Bewegung gesetzt hatte. Die Reifen knirrschten auf dem Kies.
--,,Nach zwanzig Jahren habe ich es wieder gesehen, dieses Grinsen: Mohlers Fahrer. Mohler hatte mich mitgenommen zu einem Kundenbesuch. Ich könnte schwören, daß das auch damals der Fahrer gewesen sei, aber so ganz sicher binich mir halt auch nicht!'', hatte Wiedenkamp zu Felix gesagt. Sie hatten den Felsenkeller verlassen und waren in der nahen Eisdiele gelandet. Felix hatte gesagt, er brauche dringend noch einen Expresso, und Wiedenkamp löffelte seinen Eiscafé.