Vielleicht fragte er ja auch gar nicht, hoffte Vera. Vielleicht machte sie sich auch ganz umsonst Gedanken. Jedenfalls wollte sie vorbereitet sein, wollte wissen, was sie tun wollte, was sie sagen würde. Sie wollte nicht mit ihm in seine Wohnung gehen, sie konnte nicht, sie durfte nicht, und am besten würde er nicht fragen. Wieso kam sie drauf daß er fragen könnte. Würde er sie fragen, wüßte sie nicht, was zu antworten und wie nein zu sagen. Würde er sie nicht fragen, dann, ja dann. Sie spürte schon das Ziehen im Unterleib, Vorbote einer möglichen Enttäuschung.
Sie könnte einfach nur so halten, auf der Straße, ohne in eine Parklücke zu fahren, vor seinem Haus gab es ja kaum welche, dann müßten sie sich eh schnell verabschieden. Francois hatte ja ursprünglich vorgeschlagen gehabt, sie mit seinem Wagen zum Tennis abzuholen, dann hätte er sie zu Hause absetzen müssen, und es hätte das Problem überhaupt nicht gegeben. Die Inititiative hätte bei ihr gelegen. Sie hätte sich schnell von ihm verabschieden können, und wäre ins Haus geeilt. Aber es hätte andere Unannehmlichkeiten gegeben, derentwegen sie ja auch unbedingt mit ihrem Wagen fahren wollte: Andrea, Frau Emberle, der Herr Jens. Vor allem der alte Jens der hätte die Straße bestimmt noch unter seiner peniblen Observation. Seit seiner Pensionierung drückt der sich selbst nachts seine Nase hinter der Fensterscheibe platt, dachte sie. Sie, als Mutter von zwei Kindern steigt aus einem fremden Auto, am Steuer ein Unbekannter, und ihr Ehemann fern von der Heimat, fern von der attraktiven Frau, welch ein Schmaus für Jensens Phantasie. Fern, wenn's auch diesmal bloß der Kronenkeller war. Oder Andrea, die auf ihre Kinder aufpaßte? Wäre es nicht allzu natürlich daß sie um diese Zeit ungeduldig aus dem Fenster schauen würde, begierig darauf endlich nach Hause gehen zu können? Andrea war immer noch der Meinung, daß sie zu dritt oder zu zweit spielten, wenn Felix verhindert war, was ja in den letzten Monaten allzu häufig der Fall war. Von Francois Existenz wußte sie noch nichts, und so sollte es auch bleiben. Dieser Abend war für Andrea ein ganz normaler Tennisabend. Sie paßte auf die Kinder auf, damit Vera, wiedermals ohne ihren Mann, Tennis spielen konnte, anschließend würden sie noch ein wenig in der Klubkneipe verweilen. Das war es, was Andrea annahm. Aber sie wußte nicht, genausowenig wie Felix, daß an diesem Abend weder Chris noch Moni gekonnt hatten, daß sie mit Francois alleine gespielt hatte, und daß sie statt, wie gewohnt ins Vereinslokal zu gehen, mit Francois ins Venus gegangen war. Spontane Erheiterung bei gleichzeitiger uferloser Verlegenheit stellte sich bei Vera ein, wenn sie sich Andreas Verwunderung beim Anblick von Francois vorstellte. Ihre Sprachlosigkeit, wenn sie mit Francois durch die Haustüre käme. Und dann? Würde sie danach trachten, es Felix zu stecken, würde sie Gerüchte verbreiten, obwohl dies normalerweise nicht ihre Art war? Klar, wenn Francois sie nach Hause gebracht hätte, hätte sie Andreas Sanftmut lieber nicht allzu sehr auf die Probe gestellt. Wäre sowieso überhaupt nicht in Frage gekommen, Felix wußte zwar, daß er mit ihnen Tennis spielte, aber er sollte ihn ja nicht im Wohnzimmmer vorfinden, falls er eher vom Essen zurückkäme. Hätte er sie nach Hause gebrcht, wäre sie einfach ausgestiegen, hätte tschüß gesagt und wäre im Haus verschwunden.
Den letzten Kilometer hatte sie ihr Auto in Schrittgeschwindigkeit rollen lassen; es waren ja auch keine Autos hinter ihr, die sie hätten drängeln können. Jeden Moment könnte er fragen. Also Vera, mach schon, was wirst du sagen, wenn er dich bittet noch ein wenig mit ihm in seine Wohnung zu gehen, versuchte sie sich zu einer Antwort zu zwingen. Da war sein Haus, vierstöckig, weiß und ganz neu, gläsern und gespickt mit großen Balkons, und es strahlte inmitten kleinerer, alter und teilweise auch schäbiger Häuser. Nach seinem Vorbild sollten zuküftig alle Häuser dieser Straße nach ihrem drohenden Abriß erstrahlen und das Geld der Investoren lauerte schon Zinsen werfend auf Festgeldkonten.
Freie Parklücken im Überfluß, Schlüssel nach links im Zündschloß und der Motor erstarb. Im ständigen Kampf mit der Schwerkraft schwankte langsam ein Mann auf dem Gehsteig.
--,,Heute Abend hat es mir viel Plaisir gemacht. Grandios. Wie fandest du es?''
Wie immer betonte er ,,Plaisir'' und ,,grandios'' ganz französisch, und sie fand es großartig.
--,,Es war ganz toll heute abend mit dir, wenn bloß Simone nicht aufgetaucht wäre!''
Was Simone gesehen hatte, würde schon genügen. Kein Bedarf für ihre dicherischen Talente, die sie aber dennoch wohl kaum zügeln würde, da brauchte sie sich keine Hoffnungen zu machen. An den Rosen würde sie ihren Tratsch anknüpfen. Ihre drei halbverblühten Rosen würde sie zu einem dichten Strauß binden, hinter dem Vera kaum zu erkennen gewesen sei. Rote Wangen, rot vor Aufregung, versteckt hinter roten Rosen und neben ihr der Kavalier. Damit ließ sich der gewünschte Effekt erzielen. Das war eindeutig, da war es gar nicht notwendig, daß sie beim Eintritt in die Kneipe auch noch wahrgenommen hatte, wie sie Francois Hand gehalten hatten. Die Phantasie ihrer Tratschabnehmer würde die Feinarbeit übernehmen, würde es nahezu automatisch zur Affaire machen.
Nun würde Simone überlaufen vor Mitleid mit Felix. Von nun ab würde er nicht mehr der rücksichtslose Karrierist sein, der skrupelos seine Familie vernachlässigt. Längst hätte sie ihn nun zum treusorgenden Ehemann befördert, der sich schonungslos sich bei seiner Arbeit aufopfert, um seiner Frau und seinen Kindern ein angenehmes Leben zu ermöglichen, da gab es keine Zweifel für Vera. Einsam und allein wird sie ihn nun durch die Welt geistern lassen, während seine laszive Frau sich mit anderen Männern in New Wave Kneipen rumtreibt. War das eigentlich die richtige Bezeichnung für das `Venus', oder nannte man das Hip Hopp oder so, dachte sie?
Warum hatte ausgerechnet Simone dort auftauchen müssen? Normalerweise verkehrte die doch meist in Meyers Weinstube. Gerade im Venus hatte sie sich ziemlich sicher gewühlt, hatte nicht damit rechnen können, daß irgendwelche Bekannte auftauchten, vor allem nicht Simone, denn es entsprach doch absolut nicht ihrem Geschmack. Robbie war ja kein Problem, der tratschte eh nie.
Simone hatte einen Schatten über den Abend geworfen, hatte ihr Hochgefühl getrübt.
--,,Wie wär's? Gehst du noch ein wenig mit rauf? Noch ein Gläschen Wein bei schöner Musik?'', kam Francois Frage, vor der sie sich ebenso gefürchtet hatte, wie sie sie erhofft hatte.
Ja, sie wollte noch mit ihm gehen. Nicht nach Hause, nicht jetzt und es war ja auch noch früh. Aber wenn sie mit ihm ginge, was würde geschehen? Würde Francois nicht auf dumme Gedanken kommen, dachte sie? Egal wie Simone es auch ausmalen würde, bisher konnte sie noch zu dem stehen, was geschehen war. Aber dennoch fühlte sie Schuldgefühle. Tief unten aus dem Unterbauch kamen sie, und von dort spürte sie auch das typische Ziehen und die Angst, das er vielleicht nicht zärtlich werden könnte. Sie durfte nicht mit gehen.
--,,Eigentlich wär's wohl besser, wenn ich jetzt nach Hause ginge? Andrea wartet bestimmt schon!''
Warum hatte sie nicht kurz und bündig `Ich muß jetzt leider nach Hause!' gesagt, stattdessen `eigentlich', `wäre' und dann noch hinter Andrea verstecken, dachte sie. Da hätte sie auch gleich zusagen können. Sie sollte nach Hause fahren, und sich nie mehr bei ihm melden, dann würde nicht geschehen, was nicht geschehen durfte.
Die Straße war außerordentlich ruhig an diesem Abend, nur vereinzelte Autos, vereinzelt brannten Lichter in den Häusern. Francois Haus leuchtete hell im Dunkel der Straße.
--,,Der Abend hat doch gerade erst richtig begonnen!''
--,,Ich denke, ich fahr' jetzt lieber! Ich ruf' dich an!'', sagte Vera unsicher lächelnd.
Einfach nicht mehr anrufen, und es wäre vorbei, und da war er wieder, der stechende Schmerz im Magen und signalisierte ihr die Höhe der Hürde, die sie zu nehmen gewillt war. Aber sie mußte stark bleiben, durfte keinesfalls mit ihm gehen.
Die Gestalt auf dem Bürgersteig war breitbeinig und schwankend stehen geblieben, um einen Schluck aus ihrer Weinflasche zu nehmen. Dann trippelte sie wieder los, schlängelte sich über den Bordstein, nur noch wenige Meter von Veras Wagen entfernt.