Noch am Tag zuvor war es fast sommerlich warm gewesen, aber nachts war Wind aufgekommen, ein kühler Westwind, und von dort schwebten auch immer mehr dunkle Wolken heran, immer dichter. Der Wind peitschte die Wellen gegen den Strand, und in der Gicht sah es aus, als kochte das Meer. Immer häufiger lag Mont Saint Michel, an jenem kühlen Oktobermorgen im Schatten. Morgens hatte die Sonne geschienen, hatte Dominique einen warmen Tag suggeriert und sie hatte törichterweise statt eines Pullovers nur ihr T-Shirt vom Vortag angezogen, erzählt sie Felix, viele Jahre später. Im Kreuzgang fröstelte es sie, und es half auch nichts, daß sie den Kragen ihrer dünnen Leinenjacke hochschlug. Lediglich fünf Personen waren in ihrer Gruppe. Eine Familie mit einer ungeduldigen Fünfjährigen, dann so ein blonder Schönling, -- sie glaube, daß er Alex geheißen hatte, -- und ein Typ um die Vierzig mit einer teuren Fotoausrüstung, sowie Videokamera.
Nachdem sie ihre architektonischen und historischen Erläuterungen beendet hatte und eigentlich mit ihrer Minigruppe weitergehen wollte, kam was alle befürchtet hatten, weil sie es schon wiederholt erlebt hatten. Motivsuche, hin- und herlaufen, bücken und strecken, Suche nach der optimalen Perspektive, und dann häufig sogar umständliches Wechseln der Objektive.
--,,Wie lange dauert das denn noch? Muß der denn wirklich alles filmen?'', hatte die Kleine ungeduldig gefragt.
Zur Zeit mache er noch Fotos, filmen käme erst danach dran, sagte er zur Klarstellung und unbeeirrt von der Ungeduld der anderen. Dominique fröstelte und hoffte, daß er bald fertig wäre, daß es diesmal vielleicht etwas schneller ging. Vielleicht würde er sich nachher mit einem dicken Trinkgeld erkenntlich zeigen. Sie hatte mittlerweile ein Gefühl für Leute. Sie sah ihnen an, was sie von ihnen zu erwarten hatte. Der Familienvater würde sie noch mit einigen Fragen bombadieren, die wohl nur seine Frau für intelligent hielt. Fragen und Kommentare, die zeigen sollten, daß er sachkundig war. Als Geschichtslehrer hatte sie ihn eingestuft gehabt, und außerdem einer von diesen grünen Neuromantikern. Die Gesundheitsschuhe in denen die sechs Füße dieser Familie steckten, die grobgestrickten Socken und die selbstgestrickten Wolljacken im Biolook waren für Dominique untrügliche Zeichen. Weitere dumme Gespräche aber kein Bargeld konnte sie von ihnen erwarten. Aber der Typ im Hawaihemd wirkte vielversprechend. Vielleicht würde er die mickrige Bilanz des Tages erheblich aufbessern. Wahrscheinlich würde er mit gönnerhafter Mine zwanzig, möglicherweise sogar fünfzig Francs springen lassen. Ihn hatte sie sofort als reichen Geschäftsmann klassifiziert. Einer von der Sorte, die immer Angst haben, man könnte sie nicht richtig einstufen, könnte ihren Reichtum nicht erkennen. Schau, ich habe Geld wie Heu, soll ihr großzügiges Trinkgeld beweisen. Einer von diesen Neureichen, aber darin hatte sie sich ja getäuscht. Die französischen Geschäftsleute empfand sie im allgemeinen als angenehmer, weniger aufdringlich, weniger angeberisch. Die Amies waren auch so wie die Deutschen. Die können sogar noch aggressiv werden, wenn ein Franzose mal kein Englisch kann.
Ging es ihm wirklich nur darum ein paar Leute mit im Film zu haben, damit man später die Dimensionen des Bauwerkes besser abschätzen könnte, oder wollte er sie zur Erinnerung bannen. Besonders wenn sie einen kurzen Rock trug, oder besonders figurbetonte Kleider, wurde sie häufiger als sonst, scheinbar beiläufig, von zahllos Männern mit ihren Foto- oder Videorekordern mit ins Visier genommen. Wäre es Alex, der blonde Schönling aus ihrer Gruppe, gewesen, der sie gebeten hätte mal den Gang auf und ab zu schländern, wäre es klar gewesen, worum es ging. Alex hatte sie die ganze Zeit über mit lüsternen Blicken vermessen. Weder verstohlen noch zu dreist, aber immer mit der Souveränität eines Casanovas. Sie spürte sofort, daß er Übung in Verführungsspielen hatte. Frauen waren für ihn ein Hobby, ein Zeitvertreib. Aber der Video- und Fotofan, dessen buntes Haweihemd im Halbdunkel des Säulenganges leuchtete, schien keine solchen Motive zu hegen. Immerhin hatte er ja nicht nur sie sondern auch den schönen Alex gebeten, durch den Gang zu schlendern.
--,,Hier sehen wir Dominique, unsere Führerin durch Mont St. Michel! Neben ihr Alex ein Mitglied der Besuchergruppe.'', sagt er für den Film mit verhaltener Stimme und im Stil der Fernsehkommentatoren.
Sie hatte sich gewundert, daß er es mit den Namen so genau nahm, daß er selbst den Namen des Schönlings auf Film bannte.
Am Ausgang wunderte sie sich, als sie sah wie der Mann im Hawaihemd auf die restlichen Mitglieder ihrer Gruppe einsprach und alle plötzlich fragend in ihre Richtung schauten. Hatten sie sich auf ein Trinkgeld verständigt gehabt, denn sie hatten ihr zum Abschied nichts gegeben?
--,,Ob sie noch Lust hätte, mit Ihnen einen warmen Tee zu trinken?'', fragte sie das Hawaihemd.
Die letzte Tour war es gewesen, und sie hatte sich die ganze Zeit auf ein heiße Badewanne zu Hause gefreut. Obwohl es zuerst so ausgesehen hatte, als ob die Familie mitgehen wollte, hatte sie dann doch einen Rückzieher gemacht. Die Kleine sei einfach zu schlecht drauf, sie habe zu wenig geschlafen. Nein Danke, ihr Bus würde bald fahren, und der nächste käme ihr zu spät, versuchte Dominique abzulenken. Aber in ihrem und Alexens Fall ließ er nicht locker. Sie spürte, daß er es gewohnt war, daß meistens alles nach seinem Willen ging. Widerstand regte sich in ihr, aber dennoch zwecklos. Statt sich auf ein energisches Nein festzulegen, habe sie sich mit ihm auf seine Argumentationsebene begeben, und damit gewissermaßen aufs Glatteis. Und nachdem sie ihm auf sein hartnäckiges Fragen, aber immer freundlich und charmant gestellt, gesagt hatte, daß sie kurz vor Avranches wohne, hatte er gewonnen, denn sein Hotel, Le jardin des Plantes, sei ja in Avranches und sie könne also mit ihm später mitfahren. Eigentlich wollte sie es nicht, aber sie hatte es nicht geschaft im richtigen Moment energisch genug abzulehnen. Abends würden sie sich treffen. Er, Alex und Dominique.
Es war einer dieser kühlen Oktobertage gewesen, die einen an den bevorstehenden Winter denken lassen. Die Touristenströme würden versiegen, und sie freute sich darauf, ihre Heimat wieder alleine genießen zu können. Strandwanderungen, nur die Möwen und sie, und nirgendwo sonnenbadende Touristen. Sie liebte das stürmische Wetter und das brausende Meer. Aber sie fürchtete sich auch vor dieser Jahreszeit, denn sie wußte nur allzu gut, daß die Stimmung allzu schnell umschlagen würde. Mit dem Fallen der letzten Blätter würde sich Trostlosigkeit ausbreiten. Die bunten Bilder des Sommers würden durch den feuchten und kühlen Winter spuken.
--,,Bon soir, Monsieur Molaire!'', hatte der hagere Ober gesagt, und half ihm dann mit großer Grazie seine Jacke auszuziehen. Mohler wirkte neben der langen und hageren Gestalt des Obers klein und gedrungen. Alex hatte seine Glanzlederjacke schon selbst ausgezogen und reichte sie lächelnd dem Ober. Bei Dominique hatte er nichts zu tun, denn sie hatte keine Jacke angezogen, aber nach den fröstelnden Erfahrungen während des Tages hatte sie einen Wollpullover gewählt.
Dominique schmunzelte, als sie den Namen ihres Begleiters hörte. Dezent, aber neugierig, beobachtete der Ober Dominique. Wer mochte sie sein? Er hatte sie noch nie gesehen, und sonst bei seinen vorherigen Besuchen war Mohler immer allein gewesen.
--,,Mama, schau mal, dort hinten schwimmt eine Seejungfrau!'', hatte die Kleine, die Tochter des mutmaßlichen grünen Lehrers, ein paar Stunden vorher ausgerufen, und sie hatte wild gestikulierend auf die Gischt gezeigt. Aber ihre Mutter sagte ihr, daß es an dieser Stelle keine gäbe, und ihr Vater wollte noch genauer sein.
--,,Es gibt überhaupt keine!'', und nach einem strafenden Blick seiner Frau fügte er hinzu ,,nur im Märchen!''
Norbert hatte gemeint, daß sie vielleicht alle verzaubert worden seien und nun an Land auf zwei Beinen herumliefen. Dabei hatte er Dominique angelächelt, und sie wußte nicht, ob sie es als Kompliment auffassen sollte, oder ob sie ihn wegen dummer Anmache verachten sollte.
--,,Mais non! Pas cette place!'', empörte sich Mohler, als der Ober ihnen den einzigen noch freien Tisch zuweisen wollte. Der Tisch sei viel zur nahe an der Toilettentüre, also könne es stinken, und zu nahe an der Garderobe, was ständige Unruhe bedeute.
Die schreckliche Blässe war ihr als erstes an dem Ober aufgefallen, sicherlich hatte der den ganzen Sommer über keine Sonne gesehen. So wie viele andere seiner Kollegen, galt es im Sommer, das Geld zu verdienen, daß ihnen sonst im Winter fehlen würde. Aber nach Mohler Mißfallensäußerungen bezüglich des Tisches, zeigte sich eine leichte Röte auf seinen Wangen. Der hagere Mann im schwarzen Jacket war sichtlich bemüht, Mohler keinesfalls zu verärgern. Jedem anderen hätte er sicherlich freundlich aber bestimmt gesagt, daß er dann halt warten müsse bis ein anderer Tisch frei würde. Wenn er ihnen doch wenigstens vorher Bescheid gesagt hätte, dann hätte er ihnen doch einen schönen Tisch reserviert. Aber nun könne doch nichts mehr machen, versuchte der Ober ihm verzweifelt klarzumachen.
Doch, doch, er werde ihm jetzt sagen, was er tun könne, hatte Mohler gesagt, und dabei hatte er auch Alex und Dominique im Blick. Den Tisch neben dem Aquarium wolle er, und er ließ sich nicht beirren von dem Ober, der ihm gerade erklären wollte, daß dort schon ein junges Paar sitze. Welchen besonderen Champagner sie im Keller hätten. fragte er ihn, scheinbar ohne Zusammenhang. Der Ober freute sich wohl schon, denn er glaubte nun, daß Mohler sich mit dem freien Tisch zufrieden geben würde. Willig zählte er ihm die Marken auf. Mohler stoppte ihn bei einem sehr teuren und erklärte ihm dann, daß er die beiden jungen Leute bitten sollte, ihren Platz zu verlassen, und an dem kleinen Tisch an der Toilettentür Platz nehmen sollten. Gewissernmaßen als Entschädigung sollte er ihnen auf seine Rechnung den Champagner offerieren.
--,,Mais, c'est difficile ...'', sagte der Ober, während er sich Schweißtropfen von der Stirn wischte.
Hilfesuchend, beinahe beschwörend, schaute er Alex an, aber dieser lächelte nur, unbestimmt und scheinbar desinteressiert. Dominique schaute unter sich, um schon im Vorfeld seinen Blicken auszuweichen. Ihr war es peinlich gewesen, aber was hätte sie tun sollen? Sie kannte Mohler ja kaum. Sie schämte sich, auch weil sie innerlich hoffte, daß sie wirklich den schönen Platz am Aquarium erhielten. Dominique spürte, wie ihr die Schamesröte ins Gesicht stieg und sie zu schwitzen begann.
Den Blick auf seine eigenen Schuhe gerichtet, zog der Ober Richtung Theke, als er einsah, daß Mohler bei seinem Wunsch bleiben würde und er auch von seiner Begleitung keine Hilfe erwarten konnte. Beim Weggehen murmelte er noch, daß sie doch bitte an der Theke Platz nehmen könnten, und er müsse nachschauen müsse, ob sie diesen Champagner auch wirklich noch auf Lager hätten.
Wenn nicht solle er den nächst besten nehmen, hatte Mohler ihm noch im Weggehen gesagt. Dann diskutierte der Ober mit dem Chef an der Theke. Dominique, Alex und Norbert Mohler saßen nun mit dem Rücken zum Raum an der Theke, und Dominique erinnerte sich auch noch Jahre später, wie sie Felix erzählte, wie froh sie war, nicht bei dem peinlichen Geschehen zuschauen zu müssen. AM liebsten hätte sie dem Ober und dem Mann hinter der Theke gesagt, daß sie gar nicht richtig zu diesen zweien gehöre, weder zu dem großkotzigen Deutschen noch zu dem immerzu lächelnden Gigolo, ebenfalls Deutscher. Am liebsten wäre sie zu den jungen Leuten gegangen, die anscheinend ohne aufzumucken zum Tisch an der Toilette gewechselt hatte, wo ihnen im silbernen Kübel bereits der Sekt serviert wurde. Aber sie mußten sich doch gekauft vorkommen, hatte sie gedacht.