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Das Schweigen der Meerjungfrau






Und die Erde war wüst und leer,
und Finsternis war über der Tiefe








So eine Unordnung hatte sie ja noch nie gesehen, dachte Vera vor dem großen eichenen Schreibtisch sitzend. Sie starrte entsetzt auf zahllose Haufen von Papieren, die noch nicht einmal in ordentlichen Stößen angeordnet waren. Wahrscheinlich fanden sich unter ihnen auch Scheren, Kleber und Schreiber, dachte sie. Es wirkte so, als wäre alles vom Wind so durcheinander geweht worden, aber er habe ohne aufzuräumen weitergearbeitet, neue Papierlagen aufgeschichtet. Und oben drauf lag noch die Samstagausgabe der FAZ, fein zerlegt in alle ihre Rubriken. Der Zustand seines Arbeitsplatzes war eine eindeutige Unfähigkeitserklärung für seine Sekretärin, dachte sie. Bei ihr hätte es sowas nicht gegeben. Ihr Chef war ja -- wird er wohl immer noch sein -- ein entsetzlicher Schlamper. Hatte sie ihm ja auch immer gesagt, hat er ihr nie übelgenommen, wie sollte er auch, dachte sie. Es verging kaum kein Tag an dem er nicht mindestens einmal sein scherzhaftes, aber immer auch aufrichtig gemeintes Vera-wenn-ich-sie-nicht-hätte äußerte. Aber die hatte wohl nur ihre eigene Schönheit im Kopf. Wie faul die schon im am Schreibtisch hing, als sie reinkam, die Beine über Kreuz, und ihr Rock war auch viel zu kurz.

Die Regalwand war herrlich. Zunächst betrachtete sie nur von ihrem ledernen Besuchersessel aus, irgendwie hatte sie Hemmungen aufzustehen, als wäre es verboten oder zumindest unschicklich, aber dann, nachdem sie eine weitere Weile gewartet hatte, stand sie auf, denn sie müsse sich doch mal die Beine vertreten, dachte sie. Was machte man eigentlich mit sovielen Büchern, konnte man die eigentlich alle lesen. Ob er sie wohl alle gelesen hatte, und vor allem, wenn ja, wußte er all das, was dort geschrieben stand. Normalerweise begeisterten sie Bücher gar nicht so sehr, sie waren die lästigen zusätzlichen Staubfänger in ihrem Wohnzimmer und Felix Arbeitszimmer, aber in Professor Dehmers Zimmer war sie begeistert und beeindruckt von dessen Bibliothek. Hier waren wohl die Antworten auf all ihre Fragen, die sie seit Tagen, seit ihre Mutter im Krankenhaus war, niedergeschrieben, aber dennoch unerreichbar für sie. Sie wüßte noch nicht einmal, wo sie mit der Lektüre beginnen müßte.

--,,Tut mir leid, daß ich sie so lange warten lassen mußte! Nehmen sie doch Platz.'', sagte ein kaum wiederzuerkennender Professor Dehmer, der ihr freundlich die Hand schüttelt. Er wirkte völlig ruhig, keineswegs gehetzt, wie noch am Tag zuvor, wie es laut Aussage seines Personals ja auch normal sei. War es der Samstag? Oder war es sein Büro, wirkten die Bücher auch auf ihn beruhigend?

Sie konnte nicht umhin, sie mußte fragen, auch um ihm dadurch ihre Bewunderung zu zollen:

--,,Ich habe in der Zwischenzeit ihre Bibliothek bestaunt. Haben sie wirklich all diese Bücher gelesen?''

Er folgte ihren Blicken zur Regalwand, starrte auf diese, als würde er sie zum ersten Mal sehen, und stotterte dann, denn eigentlich wollte er ihr sagen, daß mindestens die Hälfte dieser Bücher periodisch erscheinende Pharmakataloge waren:

--,,Em ... tja ... ja ... zumindest die wichtigsten ... ''

Freundlich lächelnd läßt er sich an seinem Schreibtisch nieder, und zaubert nahezu mühelos die Akte ihre Mutter aus seinem Dokumentensumpf.

--,,Wissen sie, mein Mann, der hat auch so viele Bücher, da wundere ich mich auch schon immer ... und dann noch alles behalten zu können ... also ich könnte das nicht ... ''

Ihr Lächeln verebbt, als sie ihn anschaut, plötzlich hat sie das Gefühl etwas schrecklich Dummes gesagt zu haben, sich freiwillig deklassifiziert zu haben. Aber auch er verfällt dem pubertären Protzgehabe:

--,,Hier habe ich auch nur die Bücher, die ich unbedingt während meiner Arbeit brauche ... zu Hause habe ich auch noch eine ganze Menge ... ehm ... also, um auf ihre ... ehm ihre Mutter ... em ... also eine Diagnose ist sehr schwierig und vielleicht auch noch zu früh ... em ich denke am besten gehen wir mal vom besten Fall aus, daß es sich nur um eine temporäre Verwirrung ... zwar mit allen Anzeichen einer Demenz handelt, ... allerdings halte ich es für wahrscheinlicher, daß es sich wohl doch um eine Alzheimer Erkrankung, ... wenn nicht sogar ... aber das ist jetzt noch viel zu früh ... für eine genauere Diagnose müssen wir noch eine ganze Reihe von Untersuchungen und Tests machen ... allerdings muß ich ihnen gleich sagen, daß eine sichere Diagnose sich nur durch einen operativen Eingriff machen läßt ... ''

--,,Was würde da getan?''

--,,Em ... man muß halt eine Probe aus dem Hirn entnehmen ... das können wir hier allerdings nicht machen, da müßte ihre Mutter dann in die Uniklinik ... allerdings würde ich ihnen diesen Eingriff sowieso nicht empfehlen, ... denn, das Risiko dieses Eingriffes steht in keiner Relation zum Nutzen''

--,,Aber dann wüßten wir doch genau, woran sie leidet ... ?''

--,,Em ... tja das ist richtig ... wir wüßten dann genau, was sie hat, aber die Behandlung wäre nicht wohl nicht grundlegend anders ... ''

--,,Ja, wenn sie es ansprechen ... Behandlung, welche Möglichkeiten ... gibt's da eigentlich?''

--,,Hmm ... das ist immer noch ein Problem, ... es wird zwar weltweit daran geforscht, ... aber es gibt halt immer noch keine ursächliche Behandlungsmethode für Alzheimer und die Dementia im allgemeinen''

--,,Aber ich habe doch kürzlich im Fernsehen einen Bericht über ein neues Wundermittel aus den USA ... ''

--,,Ja Ja, wie schon gesagt ... es gibt keine ursächliche wirkenden Mittel ... diese neuen Mittel verlangsamen im wesentlichen den Zerfallsprozeß, aber die Krankheit kommt nicht ins Stoppen ... ''

--,,Sie deuteten eben an, daß es möglicherweise auch eine schlimmere Krankheit ... ''

--,,Das würde ich erst mal abwarten, wir hatten hier leider ... ich meine natürlich Gott-sei-dank noch nie einen Fall von CJK gehabt, aber an der Uniklinik habe ich ... es wäre natürlich schrecklich, wenn gerade ihre Mutter ... ''

Plötzlich schwieg er und Vera schaute plötzlich in ein Paar grauer Augen, die vorher ständig über Papiere und medizinische Journale gewandert waren, die seine Hände ständig durchwühlten, als wäre dort der Schlüssel zur Heilung ihrer Mutter, oder aber als strebte er schon zu seinen nächsten Arbeiten, als hemme ihn diese Unterhaltung. Wie arretiert waren seine grauen trockenen Augen plötlich, die genau in ihre Richtung starrten, aber ihr Focus war viele Kilometer hinter ihr.

--,,Ich denke, ich sollte nun gehen! ... ''.

Kaum hatte sie ausgesprochen, war er wieder voller Energie und beeilte sich sie mit freundlichen Worten zur Türe zu geleiten.




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