Besuchszeiten, morgens von 10 bis 11 Uhr, dann nochmals von 18 bis 19 Uhr. Aber bei den abendlichen Zeiten gab es noch den handschriftlichen Zusatz ,,Nur nach Rücksprache''. Dann las sie wieder diese mit Kugelschreiber gekritzelten Anweisungen zum Öffnen der Türe. Hinter dem Kleiderständer mit ihrer roten Jacke ein international verständliches Symbol, um das Rauchen in diesem winzigen und fensterlosen Raum zu verhindern. Wenn sie jetzt auf den Flur ginge, dort gibt es ja eine spezielle Ecke, dann könnte sie ja noch eine rauchen. Merkwürdig fand sie es schon, denn normalerweise rauchte sie recht wenig. Manchmal tagelang nicht. Meist nur in Gesellschaft, und hier plötzlich, wo es verboten war, wo sie jeden Augenblick hereingerufen werden konnte, verspürte sie ein tiefes Verlangen. Sie konnte nicht auf den Flur gehen, denn, was wäre, wenn die gerade dann sie aufriefen. Woher sollten sie wissen, wo sie wäre? Würden Sie sich überhaupt die Mühe machen, nach ihr zu suchen? Natürlich nicht! Warum sollten sie? Die würden halt denken, daß sie wieder weggegangen sei und, daß sie wohl später wieder käme. Wenn Sie jemandem Bescheid sagen könnte, dann wäre es ja okay, aber sie war ja allein in dem Warteraum. Sollte sie einfach mal wieder den roten Knopf drücken und nachfragen, wie lange es noch dauere, oder, ob man sie vielleicht vergessen habe? Sie solle ein wenig warten, hatte vor über einer halben Stunde eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher der Wechselsprechanlage geplärrt, nachdem Vera ihren Namen und ihr Anliegen genannt hatte. Sicherlich sind die schrecklich überarbeitet, und durch so einen Lautsprecher verzerrt und verfremdet klingt doch wohl jede Stimme eher unfreundlich, versuchte sie sich zu ermutigen, aber dennoch würde sie noch ein wenig warten. Vielleicht in einer viertel Stunde, dann wäre es sicherlich angebracht, dann würde sie es nochmals versuchen, falls sich bis dahin nicht eh jemand gemeldet hätte. Würde man sie eigentlich per Lautsprecher informieren, daß sie eintreten könne? Dann müßten sie die Türe aber aus der Ferne öffnen können. Bestimmt käme jemand, denn sie wußte ja gar nicht, wie es weiter gehen sollte.
Kein Traum, auch wenn es noch so irreal wirkte, auch wenn es noch so wünschenswert wäre. Unter ihrem Hintern spürte sie das harte Plastik von einem der vier Stühle. Sie war allein, und wartete. Heiß und stickig war es in dem kleinen fensterlosen Raum. Sie konnte sich kaum mehr vorstellen, daß sie noch kurze Zeit vorher gefroren hatte. Sie fröstelte seit sie ihr warmes Bett verlassen hatten und leise auf nackten Zehenspitzen über kalte Fliesen mit dem Telefon ins Bad geeilt war. Ihre Oberschenkel und Kniee fest an ihren Oberkörper gepreßt saß sie mit ihrem Rücken gegen den Heizkörper, der nur wenig Wärme spendete, denn für die Heizung ihres Hauses war ihrer Programmierung folgend noch Nacht. Nacht, rebellierte es auch in ihrem Körper, und das grelle Licht von der Neonlampe über dem Spiegel konnte ihn nicht täuschen. Dunkelheit herrschte noch. Seine Worte sollten sie möglichst sanft an seine Hiobsbotschaft heranführen, aber aus dem kalten Hörer tropfte Walters Stimme wie Tränen in die tiefe Dunkelheit ihres Schlafzimmers. Der Klang, die Melodie seines einleitenden `Tut mir leid' kündeten von der Katasstrophe, sein `leid' klang nach Krankheit, Elend und Tod. Schnell aus dem Bett ins Badezimmer, denn dort könnte sie reden ohne die anderen zu wecken. Kalt war es im Badezimmer und draußen war es noch kälter und dunkel. Zurück ins Bett posaunten ihre Gefühle, aber bewegungslos verharrend lauschte sie dem, was Walter ihr zu sagen hatte. Die Kinder schliefen noch, Gott-sei-dank, und das sollte auch so bleiben, Vanessa mußte noch schlafen, sie mußte fit sein für Ihre Mathearbeit. Vera hatte ihr wortloses Entsetzen in den Hörer gehaucht. Was war mit Felix, dachte sie, ein wenig später, nachdem sie aufgelegt hatte, und versuchte zu begreifen, was Walter schluchzend von sich gegeben hatte. Wollte sie eigentlich, daß er aufwachte? Wollte sie, daß er zu ihr käme, und sie mit ihm reden könnte? Reden wollte sie, ja, aber sie hatte Furcht vor dem, was er sagen könnte, und sie hatte Angst vor dem, was er unterlassen könnte. Sie scheute sich vor seiner Kritik und vor seiner reinen Vernunft. Nein, es wäre besser, wenn er noch schliefe und sie noch alleine ließe mit ihren bleiernen Empfindungen. Sie klebte mit ihrem Rücken am Heizkörper. Ganz still, bloß nicht bewegen, und das Übel würde sie nicht bemerken.
Schweigen, und ihre Gedanken verschmolzen im Weiß der geschlossenen Türe. Eine weiße Ewigkeit, Damm gegen die Finsternis, und dann auf, zum Waschbecken. Sie mußte ihre Zähne putzen. Sollte sie noch duschen? So früh? Nein, würde zu lange dauern und würde möglicherweise auch Felix und die Kinder aufwecken. Leise, niemand soll wach werden. Verdammt, wer hat denn wieder seine Zahnpasta im Waschbecken gelassen. Die lernen das nie. Dabei, man braucht doch nur ein paar Sekunden. Sieht alles gleich so häßlich aus. Jetzt ist sie hart, und ich kann sie loskratzen. Wieso regte sie sich ausgerechnet jetzt über so etwas auf, wunderte sie sich. Das war doch jetzt völlig unwichtig! Kaffeekochen, ja, zwei Tassen ist wohl genug, denn Felix wird wohl noch nicht so schnell aufstehen.
Dann in der Küche, fühlt sie sich behaglich. Eine dampfende Kaffeetasse vor sich. Die Zeitung aufgebreitet, ein Blick in die Sonderangebote, und schöne Musik aus dem Radio, und das Monster hinter der weissen Falltüre tief in ihrem Innern schweigt. ,,... ferner weist Edwin Fiedler darauf hin, daß der Narrenzug in diesem Jahr, nicht wie gewohnt in der Waldstraße, sondern in der Kantstraße vor der neuen Mehrzweckhalle starte. Die Zahl der teilnehmenden Vereine und Gruppen, und hierauf ist Edwin Fiedler sichtlich stolz, habe sich in diesem Jahr um zehn Prozent auf nunmehr 38 gesteigert ... '' Felix würde sich jetzt wieder über diese Rechenkünste tierisch aufregen, dachte sie, während sie überlegte, wieviel Vereine wohl im Vorjahr teilgenommen hätten. In zwei Stunden erst müßte sie Vanessa aufwecken. So früh war sie schon lange nicht mehr auf gewesen. Plötzlich öffnete sich die Türe, und Felix stand blinzelnd in der Küche.
-- ,,Wer hat denn angerufen? Ist etwa etwas passiert!'', fragte er gähnend und rieb seine Augen.
Er hatte es also doch mitbekommen, hatte doch nicht so fest geschlafen, wie sie angenommen hatte. Sie verstand sein `etwa': Kann doch nicht sein, darf nicht sein, würde überhaupt nicht in meinen Terminplan passen.
-- ,,Walter war's, er sagte, daß Mutter heute Nacht aufgestanden sei und dann plötzlich zusammengebrochen sei, und dann habe sie nur wirres Zeug ... '' und unter Tränen und Schluchzen fährt sie fort: ,, es könne ein Hirnschlag ...also man ist sich noch nicht sicher ... ''
-- ,,Wer meint das? Walter? Ist sie jetzt im Krankenhaus?''
-- ,,Ja, im Heilig-Geist-Krankenhaus''
-- ,,Bleib' mal ruhig, so schlimm wird es schon nicht sein. Die ist zäh! Warte mal ein paar Stunden, dann ... ''
-- ,,Ich fahre jetzt hin.''
-- ,,Jetzt, mitten in der Nacht? Ich würd' erst mal abwarten, was die Ärzte ... ''
-- ,,Fünf Uhr ist nicht mehr mitten in der Nacht!''
-- ,,Aber die Kinder? Was ist mit den Kindern?''
Oh Gott, da hatte er recht, dachte sie, an die hatte sie überhaupt nicht gedacht. Nein, sie hatte instinktiv angenommen, daß Felix sich einmal um sie kümmern könnte.
-- ,,Die haben ja auch einen Vater und heute werden sie sich mal mit dem begnügen müssen!''
--,,Mal ganz ruhig! ... Es bringt ja nichts hysterisch zu werden! ... Laß uns mal ... ''
--,,Hysterisch! Ich hysterisch? Wenn du dich mal um die Kinder kümmern sollst? Ich glaub' du verstehst nicht richtig! Meine Mutter liegt im Krankenhaus, und vielleicht liegt sie im ... ''
Bei dem Versuch das Unaussprechliche zu artikulieren war sie plötzlich in Tränen ausgebrochen. Die trügerische Ruhe und Ausgeglichenheit war dahin.
-- ,,Also das ist doch kein Grund zur Panik! Du kannst ja erst mal abwarten, was Walter sagt. Der ist doch bestimmt schon im Krankenhaus und wird sich dort mal mit den Ärzten unterhalten. Dann kannst du mich ja immer noch, so gegen zehn in der Firma ... ich meine, falls''
--,,Du willst wirklich zur Arbeit ... unglaublich ... ''
--,,Ich muß heute um Acht in der Firma sein. Wir haben heute ... ''
-- ,,und wenn euer hÖchster Chef persönlich kommt, du mußt dich heute morgen um die Kinder kümmern. Ich muß jetzt zu meiner Mutter.''
Plötzlich öffnet sich eine Türe des winzigen Warteraumes, aber nicht die, auf die sie wartet. Nicht die erwünschte, die zu ihrer Mutter, die in die Intensivstation führt. Oh Gott, was ist denn das für eine Gestalt, denkt Vera, den sollte man auf der Arche Noah, wenn es mal wieder notwendig wäre, unbedingt als eigene Spezies mit aufnehmen.
--,,Hi'', sagt das Objekt ihres Erstaunens und schält sich aus seiner dicken abgewetzten und speckigen schwarzen Lederjacke und die Totenkopfschnalle seines Gürtels wurde von seinem dicken Wanst begraben, der darüber schwappte. Sein `University of Columbia'-T-Shirt endete über seinem Bauchnabel. Der Aufdruck auf dem T-Shirt war wohl das einzige Intellektuelle an ihm, dachte sie sarkastisch. Er mußte doch frieren, denkt sie, mitten im Winter im ärmellosen T-Shirt rumzulaufen. Easy Rider, denkt sie, da könnte der mitgespielt haben, als er noch jung und hübsch war. Wenn der sich jetzt einen Joint drehte, würde sie sich nicht wundern. Ein wenig wundert sie sich doch, als er seinen Tabakbeutel aus der Innentasche seiner Lederjacke nimmt und beginnt sich eine Zigarette zu drehen. Kann er ja machen, aber er wird sie wohl kaum hier rauchen, denkt sie. Vorbeugend starrt sie in Richtung des Verbotsschildes, das sich jetzt völlig hinter beiden Jacken verborgen war. Als er seine Jacke aufgehangen hatte, mußte er doch das Schild gesehen haben.
--,,Shit, die haben hier noch nicht einmal Aschenbescher!'', sagt er, während er die Asche auf den Boden fallen läßt.
Eigentlich sei in diesem Raum Rauchen verboten, sagt Vera, während sie zur Erklärung auf seine schwarze Lederjacke zeigt. Er schaut sie verdutzt an, nachdem er an seiner Jacke nichts Auffälliges hatte erkennen können. Er inhaliert genüßlich, ohne ihr etwas zu entgegnen, aber bevor er ausatmen kann, öffnet sich die endlich die Türe zur Intensivstation.
--,,Sie sind die Tochter von Frau Brauer? '', fragt die junge Frau im grünen Anzug in monoton schnarrender Stimme und strengem Gesichtsausdruck. Sie streckt nur ihren Kopf und Schultern in den Raum, der Rest bleibt auf der anderen Seite der nun halb geöffneten Türe.
--,,Meine Mutter ... ich bin Frau Schmied''
--,,Also Frau Schmied, sie können jetzt zu ihrer Mutter!'', sagte die junge Frau in grünen Anzug, die auf der anderen Seite der halb geöffneten Türe stand. ,,Ziehen sie sich bitte zuvor noch einen dieser grünen Kittel über.''
--,,Raucht hier jemand?'', fragt sie dann in barschem Unteroffizierston und schaut den Althippie strafend an. Durch die Spalten seiner zu einer Faust geballten rechten Hand zieht zieht der Rauch, und sein Gesicht hat einen verzerrten Ausdruck und mit der anderen Hand unterdrückt er vergeblich einen Hustenreflex, hervorgerufen vom Rauch, den er sich nicht mehr auszuatmen wagt.
Endlich war das Warten und die Ungewißheit zu Ende, ihre Mutter lebte noch, und sie würde nun bald mehr wissen.
-- ,,Wie geht es ihr?'', fragte sie in leiser und zittriger Stimme.
-- ,,Den Umständen entsprechend gut.''
-- ,,Weiß man schon ... ich meine, was die Ursache ... ''
-- ,,Hinten ... vorne reinschlüpfen ... hinten binden ... warten sie, ich helf' Ihnen''
-- ,,Weiß man schon ... ?''
-- ,,Sie schläft jetzt ... wenn's die Zeit erlaubt, können sie ja nachher noch mit dem Arzt sprechen.''
-- ,,Oh, ich habe Zeit. Ich habe den ganzen Vormittag ... ''
-- ,,Ich dachte eher an den Arzt, ob der Zeit hat. Unsere Ärzte sind zur Zeit wiedermals schwer im Streß. Folgen sie mir!''
Alles war plötzlich schrecklich schnell gegangen. Das letzte Bett hinten hatte sie gesagt und war verschwunden. Darauf war Vera nicht vorbereitet gewesen. Diesen Anblick hatte sie nicht erwartet. Warum eigentlich nicht? Schon beim Pförtner war sie geschockt gewesen. Was hatte sie sich denn vorgestellt? Hatte sie wirklich geglaubt, ihre Mutter in einem adretten Krankenzimmer mit vielen schönen Blumen anzutreffen, wo sie gemütlich im Bett liegend ihr Töchterchen mit einem ,,Schön, daß du kommst, Vera!'' begrüßt hätte. Sie wollte zu ihrer Mutter, hatte sie dem Pförtner gesagt.
--,,Wenn sie mir donn noch sagen, wie der werte Name ihrer Momon ist, denn ihren schönen Augen alleine, isch konn das nicht entnehmen'' hatte er lachend gesagt.
Wie ein junges Mädchen war sie errötet. Dabei war sein Kompliment doch wahrscheinlich nur ein Scherz gewesen, den er wohl bei jeder passenden Gelegenheit anwendete. Normalerweise hätte sie ihm möglicherweise eine schroffe Antwort gegeben, aber sein frazösischer Akzent wiegte sie in Geborgenheit, so weich, so melodiös, und sie mußte an Francois denken. Vielleicht schockte sie deshalb, das was er dann sagte, um so mehr.
--,,Zweiter Stock. Intensiv. Bitte dort im Warteraum anmelden!''
--,,Wieso Intensivstation?''
--,,Pardon ... isch kann Ihnen nicht mehr sagen ... selbst wenn isch wollte.''
Nur sein Akzent, sonst hatte er keine Ähnlichkeiten mit Francois. Francois! Francois? Sie versuchte sich ihn vorzustellen, aber sie sah nur seine Augen, seine wirklich schönen Augen. Großen und braun, umgeben von langen Wimpern und buschigen Augenbrauen, die beinahe über dem Nasenbein zusammenwuchsen. Dies gab seinem Gesicht einen leichten diabolischen Ausdruck, und er brauchte ihn dringend, denn sonst würde er viel zu knabenartig, ja sogar weiblich wirken. Seine Iris in dunklem Braun, inmitten von strahlendem Weiß. Seine Augen waren das erste gewesen, was sie von ihm gesehen hatte. Leicht melancholisch, so grenzenlos gutmütig und immer wirkte es, als saugten sie die Welt um sie herum ein, als könnten sie sich nicht sattsehen. Damals, am Boden des Regals mit den Zerealien, der Boden voll von Müsli aus dem geplatzten Pack, sah sie Augen wie nie zuvor. Augen, in die sie zu versinken drohte, die gleichermaßen, in sie zu dringen schienen. Noch nie hatte sie Augen aus solcher Nähe gesehen, und es war, als hätte sie zum ersten Mal Augen gesehen. Dann hörte sie die Stimme des Besitzers dieser Augen: ,,Pardonnez-moi, je ... '' und dann noch mehr Französisch, was sie nicht verstanden hatte. ,,Entschuldigung, ich habe nicht ... '', hatte er dann fortgefahren, als sein Geist wieder nach Deutschland zurückgefunden hatte. Der Pförtner war älter, viel älter und viel zu dick. Francois hat kein Gramm Fett zu viel, dachte sie vor den Fahrstühlen. Der Pförtner hat ja auch keine Bewegung, immer nur so rumsitzen und Essen scheint er ja auch zu mögen. Sie hatte ihn ja wohl gestört, als er gerade seine belegten Brote auspackte. Ein bisschen Sport, täte dem auch nicht schlecht. Francois ist da ja wahnsinnig aktiv, da hatte sie ja immer ein schlechtes Gewissen. Ha bei dem Job, da könne er auch leicht, würde Felix da sagen. Felix konnte ihn von Anfang an nicht ausstehen. Vielleicht hatte er was gespürt. Es konnte doch nicht nur seine allgemeine Abneigung gegen Lehrer sein.
Als sie sich vom Fahrstuhl aus nach dem Pförtner umschaute, bemühte dieser sich gerade ein möglichst großes Stück von seinem Brötchen abzubeißen, während er gebannt auf sein kleines Fernsehgerät starrte.
--,,Mama, wann kommt der endlich? Der bleibt immer auf der Fünf.''
Süß die Kleine, dachte Vera. Das Mädchen mußte doch noch schrecklich müde sein, so früh am Morgen. Dann fragte sie, vieleicht auch, weil ihre Mutter ihr auf die erste Frage keine Antwort gegeben hatte:
--,,Mama, wann gehen wir wieder heim?''
Ihre Mutter wühlte in ihrer großen Tasche. Vielleicht kontrollierte sie, ob sie ihre Autoschlüssel auch eingesteckt hatte, oder ob ihr Geldbeutel noch vorhanden war.
--,,Onkel Egon ist doch blöd. Der lappert immer so blödes Zeug!''
Die letzte Äußerung der Tochter hatte ihren Zweck erfüllt. Nun hatte sie die Aufmerksamkeit ihrer Mutter, und, was noch besser war, auch die von Vera. Ihre Mutter schaute sich verstohlen nach allen Seiten um und lächelte verlegen in Veras Richtung.
--,,Aber wie kommst du denn darauf?''
Die Kleine, die Vera sorgfältig beobachte, wohl um zusehen, welchen Effekt ihre Offenbarungen auf sie habe, war hocherfreut, als sie Vera schmunzeln sah.
--,,Du hast es doch gesagt, ...du hast doch zu Papa gesagt, ... `wenn der bloß nicht immer so quaseln würde!' ''
Sie zog es vor nicht mehr zu antworten und zog sie stattdessen energisch in den geöffneten Fahrstuhl. Vanessa hätte so was auch sagen können, dachte Vera, schmunzelnd und ein wenig schadenfroh. Vanessa müßte jetzt eigentlich schon in der Schule sein. Sie müßte unbedingt einmal Felix anrufen, ob er klarkommt. Der wird es doch schaffen Markus in den Kindergarten zu bringen, sagte sie sich, obwohl sie das Gegenteil für nicht unwahrscheinlich hielt. Zutrauen würde sie ihm, daß er ihn auch alleine laufen ließe, wenn Markus ihm erzählte, daß er dies immer mache. Vanessa würde schon allein klargekommen sein, da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Überhaupt war wohl ihre ganze Angst unberechtigt, und Felix würde würde besser zurechtkommen, als sie meinte. Aber nachfragen mußte sie einfach mal, zu ihrer eigenen Beruhigung. Ja, wenn der es von seinem Chefsessel aus machen könnte, dann wär's keine Frage:
--,,Also Sabine, sie haben sich bei unseren Nachbarn erkundigt?'' und seine Sekretärin würde darauf antworten:
--,,Natürlich Chef, ich habe bereits bei Frau Hesse nachgefragt, sie wäre bereit Markus vom Kindergarten abzuholen und könnte für die beiden kochen.'' --,,Ja prima, wenn ich Sie nicht hätte!''
Was wäre, wenn Andrea nicht zu Hause wäre. Nein, sie durfte nicht warten, bis er im Büro wäre. Jemand mußte Markus in den Kindergarten bringen. Entweder er selbst, oder er mußte halt mal rumtelefonieren. Weiß der überhaupt, wo ich mein Telefonverzeichnis habe?
Sie saß vor dem Bett ihrer Mutter auf einem kleinen dreibeinigen Hocker. Sie war froh, daß Walter nach Hause gegangen war. Nicht nur weil es ihm gut tun würde, sie war froh allein sein zu können. Walter, der sich sonst immer so rausputzte, war ein kläglicher Anblick gewesen. Unrasiert! Hatte sie ihn überhaupt jemals unrasiert gesehen? Seine Haare, -- sein volles Haar, auf das er noch so stolz war -- wirkten zerzaust. ,,Oh Gott, wie blaß der ist!'', hatte sie sofort gedacht, als sie ihn beim Eintritt ins Krankenzimmer neben dem Bett ihrer Mutter hatte sitzen sehen. Wie ein Gespenst sähe er aus, hatte sie zu ihm gesagt. Er solle mal nach Hause gehen und sich ausschlafen. Er brauche sich keine Sorgen zu machen, sie wäre ja bei ihrer Mutter.
Weiße Wölkchen drifteten über einen winterlich blauen Himmel. Blau und hell, aber in ihrem Innern weilte noch die Nacht. Dunkel, kalt und knirrschend, wie der Schnee unter ihren Stiefeln, als sie die wenigen Schritte zum Auto stapfte, und sie zerstörte die grenzenlose Stille, und dann Felix's ,,Fahr vorsichtig!''. Bevor sie die Türe zuknallte, sagte sie noch ängstlich, ,,Paß gut auf die Kinder auf!''. Kalt war es gewesen im Auto, und sie konnte es jetzt nicht mehr nachvollziehen, schwitzend vor dem Bett ihrer Mutter auf dem winzigen Hocker. Allein im Auto auf dem Weg ins Krankenhaus, ihre Scheinwerfer fraßen sich einen Weg in die Nacht, und ihr Rückspiegel war nur schwarz gewesen. Keine Sterne, kein Mond. Vorbei an schneebedeckten Feldern und Tannen, deren Äste sich beugten unter der Last des Schnees. Sie saß im weichen Autositz und glaubte noch die harten Fliesen unter ihren Pobacken zu spüren, wähnte ihre Beine immer noch fest an Bauch und Busen, umschlungen von ihren Armen, den Kopf zur Schulter geneigt, um so den Telefonhörer zu halten.
-- ,,Stell' dir vor, einfach so zusammengebrochen ... hat dann nur noch wirres Zeug gebabbelt ... Verdacht auf Hirnschlag'', versuchte Walter ihr möglichst ruhig zu sagen, was ihrer Mutter, seiner Frau, geschehen war, aber sie glaubte Tränen zu spüren. Als das Telefon klingelte, war sie im Halbschlaf, weil Markus sie kurze Zeit vorher geweckt hatte. Die ganze Nacht hatte sie schrecklich geschlafen. Immer wieder, die ganze Nacht durch, wurde se von beiden Kinder aus dem Schlaf gerissen. Felix hatte anscheinend nichts mitbekommen, wie meistens. Sie war es immer, die nachts auf mußte, die sich um die Kinder kümmern mußte. Aber dennoch beklagte er sich immer am nächsten Morgen, daß er keinen Schlaf wegen der Kinder bekommen hätte, daß sie hätte leiser sein müssen, daß es so nicht weitergehen könne, er müsse doch fit für seine Arbeit sein. In seiner Position könne er es sich schließlich nicht leisten, unausgeschlafen zu sein. Für seine Tätigkeit brauche er einen klaren Kopf. Was denkt er eigentlich, was sie den ganzen Tage machte. Ihre Arbeit zählte einfach nicht bei ihm. Wer achtete überhaupt ihre Arbeit? Im Halbschlaf war sie, aber dennoch erschrak sie, als das Telefon klingelte. Da mußte was Schlimmes passiert sein, dachte sie sofort. Aber ist das nicht normal, so zu denken, wenn das Telefon zu solch ungewöhnlicher Zeit klingelt. Ihr Denken folgte doch der simplen Logik: unnormale Zeit des Anrufes läßt auf ein außerordentliches Ereignis schließen, welches ihn verursacht hat. Aber es hätte auch ein ganz normales Verwählen oder eine Fehlverbindung sein können. Ab und zu kommt es halt mal vor, daß sie nachts vom Telefon geweckt werden, und sie nur in ein atmosphärisches Knistern und Rauschen ihr ,,Hallo wer ist denn da?'' richtet. Immer wunderte sie sich, wer zu solchen Zeiten noch auf sein könnte, noch telefonieren will. Die halbe Welt vielleicht, dachte sie im nach halbstündiger Fahrt angenehm warmen Auto. Oder vielleicht zwei Drittel der Menschheit. Irgendein Japaner wählt plötzlich versehentlich die deutsche Vorwahl und dann hat er möglicherweise schnell jemand aus dem Schlaf gerissen. Oder damals Felix, als er in Kalifornien gewesen war, der hatte einfach einen Fehler gemacht, als er die deutsche Zeit berechnete. Nachmittag oder Abend war es bei ihm schon gewesen, oder egal, jedenfalls lag sie noch im Bett, hatte noch fest geschlafen. Verwirrt und verschlafen war sie, ihm war sofort klar, daß er sie geweckt haben mußte, aber dennoch freute sie sich ihn zu hören. Zuerst freute sie sich, dann kam die Enttäuschung.
Im Auto auf dem langen Weg ins Krankenhaus dachte sie, daß sie doch eigentlich an ihre arme Mutter denken müsse, aber sie wanderte wieder über sieben Jahre zurück in der Zeit.
--,,Hi Schatz, hier ist Felix!'', hatte er sie aus dem Schlaf gerissen. ,,Tut mir leid, daß ich heute morgen nicht angerufen konnte!''
Total benommen war sie. Das Klingeln des Telefons hatte sie aus dem Tiefschlaf gerissen. Wo war Felix? Warum rief er sie mitten in der Nacht an? Kurz vor Mitternacht war es gewesen. San Francisco! Von mittags ab hatten sie auf seinen Anruf gewartet. Bis elf Uhr war sie noch aufgeblieben, falls er noch anriefe, aber dann war sie einfach zu müde gewesen. Die Nacht zuvor hatte sie einfach zu schlecht geschlafen gehabt. Vanessa war erkältet und hatte sich unruhig und stöhnend in Felixens Bett hin und her gewältzt. Sie hatte nicht alleine in ihrem Bett schlafen wollen, und Markus hatte sie öfters als normal geweckt.
Sie hatte auf seinen Anruf gewartet, denn er hatte ihr mitteilen wollen, wann er am nächsten Tag zurückflöge. Sie brauche ihn nicht abzuholen, denn die Firma würde ein Taxi für ihn und Dr. Malter bereitstellen, aber er hatte nicht gesagt wann.